Soziale Arbeit in der Arztpraxis

Soziale Arbeit in der Arztpraxis ist in der Schweiz ein weitgehend unbekanntes Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit. Zusammen mit vier Praxispartnerinnen hat die BFH die organisatorischen Grundlagen erarbeitet sowie eine Nutzen- und Wirkungsanalyse durchgeführt.

Steckbrief

  • Lead-Departement(e) Soziale Arbeit
  • Institut Institut Organisation und Sozialmanagement
  • Forschungseinheit Social Innovation
  • Förderorganisation Schweizerische Agentur für Innovationsförderung (Innosuisse)
  • Laufzeit 01.03.2020 - 28.02.2022
  • Projektverantwortung Dr. René Rüegg
  • Projektleitung Dr. René Rüegg
  • Projektmitarbeitende Katharina Eiler
  • Partner Caritas beider Basel
    Gesundheitspunkt Oberägeri
    Psychotherapeutische Praxis in Zollikofen (PPiZ)
    Sozialberatungsbüro Bärn (SoBü Bärn)
  • Schlüsselwörter Soziale Arbeit, Arztpraxis, Nutzen, Wirkung, Sozialberatung, Grundversorgung

Ausgangslage

Sowohl der Bund als auch die Kantone fordern eine stärkere interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Nicht nur die Zunahme an chronisch und mehrfacherkrankten Menschen, sondern auch der Fachkräftemangel erfordern neue und innovative Formen der interprofessionellen Zusammenarbeit. Das zunehmende Wissen über die sozialen Faktoren von Krankheit und häufige soziale Patientenanliegen sind Hinweise, dass interprofessionelle Teams mit Expert*innen für «das soziale Netz» ergänzt werden können. Mit der Früherkennung von sozialen Problemen können Haushaltsbudgets stabilisiert, medizinische Behandlungen und Pflege finanziert, Arbeitsplätze erhalten und die sozialen Netz aufrechterhalten werden.

Damit das durch chronische Erkrankungen und Multimorbidität belastete Gesundheitswesen entlastet werden kann, empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) allen Ländern, ein zusätzliches Prozent ihres Bruttoinlandprodukts in die Grundversorgung zu investieren. Eine starke Grundversorgung erhöhe nicht nur die gesundheitliche Chancengleichheit und die Gesundheit der Bevölkerung, sondern senke gleichzeitig auch unnötige Hospitalisierungen und Gesundheitsausgaben. Soziale Arbeit in der Grundversorgung könne dabei vielfältig eingesetzt werden. Sie unterstützt die Patient*innen beim Zugang zum und der Orientierung im Gesundheitswesen, fördert die soziale Integration, übernimmt soziale Anamnesen und entlastet das medizinische Personal beispielsweise bei Themen von betreuenden Angehörigen, im Kontext des Kindes- und Erwachsenenschutzes oder von Sozialversicherungen.

Obwohl sich Soziale Arbeit in der Arztpraxis (primary care social work) in verschiedenen Ländern erfolgreich etabliert hat, sind in der Schweiz nur wenige vergleichbaren Angebote bekannt. Diese sind in den letzten Jahren aus dem Bedürfnis nach einer ganzheitlichen und patientenorientierten Grundversorgung entstanden und wurden von engagierten Ärzt*innen und Sozialarbeiter*innen entwickelt und aufgebaut. Dieses Forschungsprojekt wurde zusammen mit vier dieser Angebote von Sozialer Arbeit in der Arztpraxis durchgeführt.

Ziele

Im Rahmen des von Innosuisse geförderten Forschungsprojekts hat sich die BFH zwei Ziele gesetzt. Einerseits wurden die fachlichen und organisatorischen Grundlagen von Sozialer Arbeit in der Arztpraxis erforscht. Das Wissen über die unterschiedlichen Modelle von Sozialer Arbeit in der Arztpraxis sowie von Sozialer Arbeit für die Arztpraxis soll sowohl Fachkräften der Praxis als auch Entscheidungsträger*innen als Grundlage für die Angebotsentwicklung dienen. Andererseits wurde eine umfassende Nutzen- und Wirkungsschätzung vorgenommen. Dabei soll mehr Wissen über das Klientel der Sozialberatungen, über ihre sozialen, psychischen und körperlichen Veränderungen während einer Sozialberatung sowie über den Nutzen für die Ärzteschaft geschaffen werden.

Als Projektziele wurden ein Bericht über die «Einführung und Grundlagen» von Sozialer Arbeit in der Arztpraxis und ein «Forschungsbericht» erstellt. Weitere Produkte wie ein Kurzbeschrieb in Form einer Broschüre und Fachartikel zum Thema runden das Projekt ab.

Vorgehen

Sowohl für den Grundlagenbericht als auch für den Forschungsbericht wurde ein umfassende Literaturrecherche durchgeführt. Die Ergebnisse des Grundlagenberichts stützen sich zudem auf Experteninterviews, Expertenworkshops und auf die Erfahrungen der Praxispartnerinnen. Die Ergebnisse des Forschungsberichts stützen sich weiter auf eine Patientenbefragung mit Längsschnittdesign, eine Ärztebefragung und Experteninterviews. 

Ergebnisse

Die Erkenntnisse des Grundlagenberichts über die theoretischen Grundlagen und die praktische Umsetzung zeigen, dass Soziale Arbeit in der Arztpraxis mit wenig Kooperationsaufwand umgesetzt werden kann. Die Überweisung von Patient*innen an die Sozialberatung ist für die Ärzteschaft ähnlich unkompliziert wie die Überweisung an medizinische Spezialist*innen:

«Ob ich jetzt jemanden zum Gastroenterologen schicke oder zur Sozialberatung: Für mich ist das etwa das gleiche.» Ein beteiligter Arzt
 

Die Erkenntnisse aus der Forschung über interprofessionelle Zusammenarbeit belegen einerseits, dass intensive Zusammenarbeitsformen möglich sind. Gerade bei komplexen und psychosozialen Patientenanliegen, die quer zu den professionellen Kategorien und Fähigkeiten verlaufen, sind gemeinsame Fallbesprechungen, Teamsitzungen und kurze Kommunikationswege innerhalb der Praxis vorteilhaft. Andererseits zeigen die Ergebnisse auch, dass externe Sozialberatungen mit einem Büro ausserhalb der Arztpraxis ebenfalls erfolgsversprechend sind. In Zukunft benötigen diese externen Angebote, die neben den Arztpraxen auch mit Spitexdiensten oder Alters- und Pflegeheimen zusammenarbeiten können, vermehrt Aufmerksamkeit.

Die folgenden Aussagen von Ärzt*innen, die an der Untersuchung teilgenommen haben, verdeutlichen den Nutzen für die Ärzt*innen:

«Und ich lerne natürlich vom Sozialarbeiter, genauso wie der Sozialarbeiter gewisse Aspekte, die er benötigt von mir übernehmen kann. Deshalb wird es eine sehr befriedigende Situation sein, weil wir ständig am Lernen sind und immer mehr Kompetenzen erhalten, ohne uns eine Kompetenz vollständig aneignen zu müssen.» Ein beteiligter Arzt

 

«Sie kommen immer wieder mit dem gleichen Anwaltsbrief oder mit einem Brief vom Vermieter. Mit allen Anliegen kommen sie zu mir und erwarten einen Ratschlag oder eine Lösung. Dann kann ich nicht sagen: Das ist nicht mein Job, gehen sie weg. Die Leute fühlen sich dann vor den Kopf gestossen. (…) Aber: ich habe einfach keine Zeit für das. Das war unter anderem eine Motivation, eine Fachperson zu haben, die diese Leute berät.» Ein beteiligter Arzt


Die Ergebnisse im Forschungsbericht besagen, dass die Soziale Arbeit in der Arztpraxis sowohl den Patient*innen als auch der Ärzteschaft einen hohen Nutzen bringen. Die Patient*innen profitieren von einer besseren psychischen Gesundheit, einer erhöhten Autonomie und einem besseren allgemeinen Wohlbefinden. Die Ärzteschaft ihrerseits berichtet von mehr Zeit für die medizinischen Anliegen in den Sprechstunden, einer erhöhten Versorgungsqualität und einer erhöhten Arbeitszufriedenheit.

Fazit

Soziale Arbeit in der Arztpraxis bringt sowohl den Patient*innen als auch den behandelnden Ärzt*innen einen grossen Nutzen. Im Sinne einer patientennahen und ganzheitlichen Grundversorgung nach den Richtlinien der WHO dürfte die Soziale Arbeit in der Arztpraxis auch in der Schweiz Verbreitung finden. Ihr Potenzial für eine chancengerechte und effiziente Gesundheitsversorgung ist gross.

santeneXt 2021

Der am Projekt beteiligte Gesundheitspunkt Oberägeri gewann den Prix d’excellence santeneXt 2021. Mit dem Projekt «Sozialberatung in der Arztpraxis» der Caritas beider Basel ist auch eine weitere Finalistin im Forschungsprojekt involviert.

Gesundheitspunkt Oberägeri

Caritas beider Basel

Dieses Projekt leistet einen Beitrag zu den folgenden SDGs