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Ältere Obdachlose – eine unbekannte Lebenswelt
11.11.2024 Über ältere Menschen, die teilweise seit Jahren ohne Obdach leben, ist kaum etwas bekannt. Die BFH will mit einem Forschungsprojekt Grundlagen schaffen, um diese Menschen gezielter unterstützen zu können.
Das Wichtigste in Kürze
- In der Schweiz sind mehr als 2000 Menschen obdachlos.
- Obdachlosigkeit begünstigt eine vorzeitige Alterung.
- Die BFH will Grundlagenwissen schaffen, um die Unterstützung von älteren Obdachlosen zu verbessern.
Obdachlosigkeit ist auch in der wohlhabenden Schweiz längst ein Thema. Das Bundesamt für Wohnungswesen schätzt, dass mehr als 2000 Personen kein Dach mehr über dem Kopf haben. Manche Menschen leben zudem seit Jahren in betreuten Wohneinrichtungen, Notunterkünften oder im öffentlichen Raum wie zum Beispiel auf der Strasse.
Doch was passiert mit ihnen, wenn sie älter werden, mehr und mehr Gebresten aufweisen, plötzlich mit körperlichen Einschränkungen zu kämpfen haben und pflegebedürftig werden? Welche Angebote könnten ihnen helfen, die dadurch noch einmal prekärere Lebenssituation zu bewältigen? Auf diese Fragen gibt es bisher keine Antworten, es fehlen gesicherte Informationen. Mit einem Forschungsprojekt will die BFH die Grundlagen schaffen, um ältere Obdachlose bedürfnisorientiert unterstützen zu können.
Kein Kontakt zur Aussenwelt
«Menschen, die seit Jahren ohne festes Obdach sind, leben oft isoliert und in teilweise prekären Verhältnissen», weiss Sabrina Laimbacher. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin und ihre Kollegin Sabrina Gröble kennen die Situation von Obdachlosen. Sie waren im Rahmen des Forschungsprojekts «ReachOut» mit ihnen in Kontakt gekommen. Dieses hatte zum Ziel, die subjektiven Bedürfnisse und Strategien im Kontext der psychischen Gesundheit von Obdachlosen und Sans-Papiers in der Schweiz zu erkunden.
Bei den Begegnungen und Beobachtungen war ihnen aufgefallen, dass mehrere der obdachlosen Personen bereits älter waren respektive die Alterung bei ihnen vermutlich aufgrund der herausfordernden Lebensweise früher eingesetzt hatte.
Wie diese Menschen alterstypische, körperliche und kognitive Veränderungen erleben, wie sie damit klarkommen und wie sich diese auf ihre Unterstützungsbedürfnisse auswirken, ist bisher unbekannt. Langjährige Obdachlose lebten oftmals zurückgezogen und würden den Kontakt zur Aussenwelt weit gehend meiden, hat Sabrina Laimbacher festgestellt. «Wir haben auch erlebt, dass obdachlose Menschen davongerannt sind oder sich schlafend gestellt haben, wenn Sozialarbeitende das Gespräch mit ihnen suchen wollten.»
Grundlagenwissen schaffen
Deshalb beschlossen Sabrina Laimbacher, Sabrina Gröble sowie ihre Forschungskollegin Simone Gäumann, dem Thema der älter werdenden obdachlosen Menschen mit dem Projekt «Connect» auf den Grund zu gehen. «Unser Ziel ist es, Grundlagenwissen zum Prozess des Älterwerdens und der Frühalterung zu schaffen. Wir wollen erfahren, wie sich diese auf die Gesundheit, Lebenssituation und Unterstützungsbedürfnisse von Obdachlosen auswirken.»
Dabei wollen die Forscherinnen die Perspektive der Betroffenen, von Fachleuten und Personen aus dem Umfeld der Betroffenen einbeziehen. Gestützt auf diese Grundlage sollen laut Sabrina Laimbacher Empfehlungen erarbeitet werden, wie die Betroffenen unterstützt werden könnten, «damit sie mit den Folgen des vorzeitigen Alterns umgehen und ihre Selbstbestimmung möglichst lange aufrechterhalten können».
Psychische Probleme, Suchterkrankungen, Arbeitslosigkeit und Armut sind häufige Ursachen für Obdachlosigkeit.
Doch was führt überhaupt dazu, dass Menschen eine feste Bleibe verlieren und über viele Jahre hinweg entweder auf Notunterkünfte angewiesen sind oder draussen ihr Leben verbringen? «Psychische Probleme und Suchterkrankungen, aber auch Arbeitslosigkeit und Armut sind häufige Ursachen für Obdachlosigkeit», gibt Sabrina Laimbacher zur Antwort.
Vor diesem Hintergrund komme es auch vor, dass Menschen freiwillig ihre Wohnung aufgeben und auf der Strasse leben würden. Der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit von der Gesellschaft, ihren Institutionen und Zwängen sei eine häufige Motivation. Über die Jahre hinweg führe er jedoch häufig in eine Spirale des verschleissenden Kampfes, um zu überleben und den Alltag zu bewältigen, so die Forscherin.
Eindrückliche Schicksale
Sabrina Laimbacher und ihre Kolleginnen besuchten im Rahmen eines Vorprojekts in Bern und Zürich verschiedene Unterstützungsangebote für Obdachlose und führten Gespräche mit Fachpersonen und Betroffenen. So erhielten sie erste Einblicke in die Lebensweise älter werdender Obdachloser, die Herausforderungen, aber auch ihre Bedürfnisse.
Die Schicksale hätten sie berührt, teilweise betroffen gemacht, ihnen aber auch imponiert: «Es war beeindruckend, mitunter die Widerstandskraft dieser Menschen zu sehen, wie sie unter widrigen Umständen überleben und ihr Leben gestalten.» Eine Begegnung ist Sabrina Laimbacher besonders im Gedächtnis haften geblieben. «Am Rande eines Wohnquartiers trafen wir auf eine Frau, die sich dort mit persönlichen Gegenständen wohnlich eingerichtet hatte.»
Brüske Übergänge vermeiden
In den ersten exploratorischen Gesprächen zeichneten sich für die Forscherinnen deutliche Umrisse von Lücken in der Versorgung älterer obdachloser Menschen ab. «Die meisten der Angebote sind noch zu wenig auf die Thematik des Älterwerdens ausgerichtet», erklärt Sabrina Laimbacher. Entsprechend stehe bei Unterstützungsangeboten die Überlebenshilfe im Fokus: «Es geht darum, das Überleben und die Grundbedürfnisse zu sichern, also die Betroffenen mit Essen oder Schlafsäcken zu versorgen.» Gesundheitliche oder alterstypische Themen rückten dabei oft eher in den Hintergrund, so Sabrina Laimbacher.
Im geplanten Projekt will das Forschungsteam auch vertieft untersuchen, welche Formen von Unterstützung ältere Obdachlose bereits nutzen und wie diese noch besser auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet werden könnten. Wenn es gelinge, Betroffene einzubeziehen, alterstypische Veränderungen frühzeitig zu erkennen sowie die Gesundheit zu stärken, lasse sich nicht nur die Lebensqualität dieser Menschen erhöhen, sondern auch brüske Übergänge in ihrem Leben könnten verhindert werden, erläutert Sabrina Laimbacher.
Wir wollen die Lösungsansätze zielgruppenorientiert und partizipativ entwickeln.
In der Fachsprache ausgedrückt geht es um «fürsorgerische Unterbringungen». Sobald die Gesundheit akut bedroht ist oder gar Lebensgefahr besteht, werden Menschen auch gegen ihren Willen in eine Notfalleinrichtung wie psychiatrische Kliniken oder Spitäler eingewiesen. Ein Einschnitt, mit dem sie oft weniger gut zurechtkommen als mit sämtlichen Entbehrungen eines Lebens auf der Strasse.
Für die Forscherinnen ist deshalb der Einbezug der Betroffenen wichtig. «Wir wollen die Lösungsansätze zielgruppenorientiert und partizipativ entwickeln.» Dadurch erhöhten sich die Chancen, dass diese Menschen das Angebot auch wirklich in Anspruch nehmen würden, unterstreicht Sabrina Laimbacher.