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«Eine spannende Zeit, um in die Bauberufe einzusteigen»
15.10.2024 Architekt*innen und Bauingenieur*innen können die Gesellschaft verändern: Das sagen Tobias Baitsch, Leiter des BFH-Instituts für Siedlung, Architektur und Konstruktion, und Stanislas Zimmermann, Studiengangleiter Master Architektur. Im Interview äussern sie sich zu ihrem Credo in der Ausbildung, zur interdisziplinären Zusammenarbeit und zum Forschungslabor vor ihrer Haustüre.
Welches Gebäude eines anderen Architekten hätten Sie gerne selbst entworfen?
Stanislas Zimmermann: Interessant finde ich zum Beispiel das Hortus-Gebäude von Herzog & de Meuron in Allschwil. Es hinterfragt die heute gängigen Bausysteme und setzt konsequent auf klimaschonende Techniken und Baumaterialien wie Holz und Lehm. Dieser innovative Ansatz entstand aus einer intensiven interdisziplinären Kooperation zwischen Bauingenieur*innen, Fachplaner*innen und Bauträger*innen.
Tobias Baitsch: Ich wähle ein Beispiel, das eher den Menschen und seine gesellschaftliche Entwicklung in den Mittelpunkt stellt. Der indische Architekt Balkrishna Doshi wurde Ende der 1980er-Jahre im Projekt Aranya mit der Planung eines gemischten Stadtteils für Slumbewohner*innen und mittelständische Bewohner*innen betraut. Doshi setzte auf den transformativen Charakter des Urbanisierungsprozesses sowie die Innovationskraft und Fähigkeiten der Bewohner*innen, ihren eigenen Lebensraum zu gestalten. So entstand ein lebendiger Stadtteil.
Wie hat sich der Beruf der Architekt*innen in den vergangenen Jahren verändert?
Stanislas Zimmermann: Er ist vielfältiger geworden, und es haben sich entsprechende Nischen gebildet. In meiner Studienzeit zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Architekt*innen noch minimalistische Baukünstler*innen und raffinierte Konstrukteur*innen. Heute sind die Bauvorhaben komplexer, hinzu kommen grosse Herausforderungen wie die Digitalisierung oder die Klimakrise. So gibt es heute Zwischennutzungsspezialist*innen, Bauteiljäger*innen oder BIM-Koordinator*innen. Andere sehen sich als Theoretiker*innen und wollen sich um die Weiterentwicklung der Baukultur kümmern, ohne selbst zu bauen.
Tobias Baitsch: Auch die alternde Gesellschaft oder die Migration gehören zu den grossen Herausforderungen unserer Zeit. Architekt*innen versuchen nicht nur Lösungen für all diese Herausforderungen zu finden, sondern können selbst eine gesellschaftsverändernde Kraft sein.
Wie verändert das Thema Nachhaltigkeit Ihr Institut?
Stanislas Zimmermann: Bereitstellung und Betrieb von Gebäuden verursachen heute etwa 30 Prozent der Treibhausgasemissionen der Schweiz. Durch leistungsfähigere Gebäudehüllen und Heizsysteme konnte dieser Anteil erfreulicherweise seit der Jahrtausendwende um etwa 10 Prozent reduziert werden. Weitere grosse Einsparungen sind bei der grauen Energie möglich, die wir für den Bau- und Umbau von Gebäuden einsetzen. Wir haben dafür einen enorm grossen Hebel in der Hand: Durch den Einsatz von Holz und Lehm anstelle von Stahl und Beton und durch die Erhöhung der Lebensdauer der bestehenden Bausubstanz durch Weiterverwendung können Emissionen und Ressourcenverbrauch stark reduziert werden.
Tobias Baitsch: Es sind längst noch nicht alle Hebel erfunden. Es ist also eine sehr spannende Zeit, um in die Bauberufe einzusteigen: Neben Architekt*innen bilden wir auch Bauingenieur*innen aus. Gerade letztere spielen bei der ökologischen Wende eine grosse Rolle, denn in den Tragwerkkonstruktionen kann viel graue Energie eingespart werden. Die strategischen Themenfelder der BFH – «Nachhaltige Entwicklung», «Caring Society» und «Digitale Humane Transformation» – eröffnen uns auch neue Forschungsprojekte. Mit unserem Stadtlabor sind zum Beispiel Projekte in Zusammenarbeit mit Fachverbänden oder der Bevölkerung möglich. Dazu gehört etwa das Projekt zur Umnutzung des Bieler Spitalareals.
Stanislas Zimmermann: Das Spital zieht ja in absehbarer Zeit an einen anderen Standort um. Unsere Studierenden führten deshalb mit der Quartierbevölkerung Workshops durch, um deren Bedürfnisse und Ideen zu besprechen. So konnten erste Vorschläge für die zukünftige Nutzung des Spitalareals präsentiert werden. Diese Resultate bilden die Grundlage für die nun anstehenden Machbarkeitsstudien. Die Studierenden lernen an realen Beispielen, wie man Stadtentwicklungsprojekte oder andere Bauprozesse gestaltet. Und wie man mit den verschiedenen Ansprechgruppen innerhalb eines Projekts zusammenarbeitet und kommuniziert.
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Transformation Spitalareal Biel – Chancen und Herausforderungen
Tobias Baitsch: Solche Prozessbegleitungen bieten wir für Städte und Gemeinden an. Dabei geht es nicht darum, spezialisierte Architekturbüros zu konkurrenzieren. Wir als Hochschule können Denkanstösse für neue, innovative Lösungen liefern oder auch experimentellen Fragestellungen nachgehen. Grundsätzlich hat interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Architektur eine lange Tradition. Schon im Bachelor-Studium entwickeln und entwerfen bei uns Architekt*innen, Holz- und Bauingenieur*innen gemeinsam Projekte. Oder sie vertiefen sich in den studiengangsübergreifenden Minors in die Themen des integralen digitalen Bauens oder des zirkulären und nachhaltigen Bauens. Das ist in dieser Intensität sicher einmalig in der Schweiz und bereitet unsere Abgänger*innen auf die interdisziplinäre Baupraxis vor.
Was ist Ihnen in der Ausbildung der Studierenden und in der Weiterbildung von Berufsleuten sonst noch wichtig?
Tobias Baitsch: Mit Sicherheit eine qualitative hochstehende fachliche Ausbildung. Darüber hinaus geht es um das Vermitteln von Neugierde und Begeisterung für die eigene Disziplin. Dies bildet die Voraussetzung für lebenslanges Lernen, das wiederum zentral ist in einer sich stark wandelnden Welt.
Stanilas Zimmermann: Um das vermitteln zu können, müssen wir Dozierende selbst von der Materie begeistert sein. Das ist eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen.
Tobias Baitsch: Wichtig ist uns auch ein breit gefächertes Weiterbildungsangebot für unterschiedliche Berufsgruppen. So vermittelten wir Kenntnisse und Kompetenzen zum Beispiel in der Denkmalpflege, zum nachhaltigen Bauen oder zu den digitalen Fertigkeiten bei Planung und Ausführung. Zudem entwickeln wir laufend neue Angebote wie derzeit etwa das CAS «Raumplanung und Transformation», das 2025 startet.
«Um Neugierde vermitteln zu können, müssen wir Dozierende selbst von der Materie begeistert sein. Das ist wichtig!»
Wie beeinflussen externe Partnerschaften die Lehre und die Forschung?
Stanislas Zimmermann: Stadt und Region Biel/Bienne und der Kanton Bern sind unsere Reallabore. Wir sind in regem Austausch mit den Bieler Fachverbänden und Stadtbehörden, damit wir mit den Studierenden an aktuellen und realen Aufgaben arbeiten können. Derzeit tun wir das im Bieler Seequartier. Es soll ein lebendiges Quartier mit höherem Wohnanteil und guter Nutzungsmischung entstehen und gleichzeitig die Verbindung zwischen Stadtzentrum und See verbessert werden.
Tobias Baitsch: Solche Kollaborationen aus der Lehre bereichern auch unsere Forschung. Dies zeigt sich zum Beispiel schön im Projekt Holzbaukultur. Gemeinsam mit Studierenden hat ein interdisziplinäres Forschungsteam aus Ingenieur*innen, Architekt*innen und Kulturhistoriker*innen die Schweizer Holzbauten aus über sechs Jahrhunderten dokumentiert und in Bild und Ton online verfügbar gemacht – und damit einen Beitrag an die Schweizer Holzbaukultur geleistet. Im Auftrag von Fussverkehr Schweiz und dem Bundesamt für Gesundheit haben wir eine Untersuchung zur Verbesserung der Aufenthaltsqualität in Begegnungszonen auf Quartierstrassen durchgeführt. Die Resultate wurden von der Weltgesundheitsorganisation als «good practice-Beispiel» aufgenommen. Jetzt hoffen wir, dass die Erkenntnisse an vielen Orten umgesetzt werden.