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Ältere als Risikogruppe: Eine differenzierte Betrachtungsweise
08.06.2020 Es ist nachvollziehbar, dass in einer frühen Phase der Corona Pandemie das kalendarische Alter zur Bezeichnung einer umfassenden Risikogruppe herangezogen wurde. Tatsächlich ist aber die Bevölkerungsgruppe der älteren Menschen so heterogen, dass das Alter allein kein genügendes Kriterium für die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe darstellt.
Nun, da viele Schutzmassnahmen gelockert werden und eine Abwägung zwischen Infektionsschutz und anderen gesellschaftlich relevanten Zielsetzungen stattfindet, gibt es keine Rechtfertigung mehr dafür, Personengruppen allein aufgrund ihres Alters von wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auszuschliessen.
Teilhabe, Partizipation und soziale Kontakte sind essenziell
Für unser Wohlbefinden sind die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und insbesondere soziale Kontakte zentral. Dabei sind die möglichen Formen dieser Teilhabe stark von der jeweiligen Lebensumwelt abhängig. Entsprechend unterschiedlich sind ältere Menschen von den Massnahmen während der Corona-Pandemie betroffen und es ergeben sich folglich verschiedene Möglichkeiten, gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
- Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeheimen waren in der akuten Phase der Pandemie von besonders einschneidenden Massnahmen wie Besuchs- und Kontaktverboten betroffen. Ein konsequenter Ausbau der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten verbunden mit entsprechender Hilfestellung und Begleitung kann hier grosse Erleichterung verschaffen. Echte zwischenmenschliche Kontakte können dadurch jedoch nicht ersetzt werden. Durch die Schaffung von geschützten Aussenbereichen können Spaziergänge auch jenen Bewohnerinnen und Bewohnern ermöglich werden, die besondere Ansteckungsrisiken aufweisen. In diesem Rahmen sollte auch geprüft werden, wie Begegnungen mit Angehörigen unter Einhaltung der Hygienemassnahmen stattfinden können.
- Für alleinlebende ältere Menschen sind leicht erreichbare Dienstleistungen und Versorgungsangebote im sozialen Nahraum besonders wichtig. Ein «Zuhause-bleiben» bedeutet, dass wichtige, oft gesundheitsrelevante Leistungen nicht mehr nachgefragt werden, was gesundheitliche und soziale Folgen nach sich ziehen kann. Damit diesen älteren Menschen langfristig keine Nachteile entstehen, sind Leistungserbringer gefordert, ihre Angebote unter Einhaltung der notwendigen Schutzmassnahmen zu den älteren Menschen zu bringen.
- Ältere Menschen, die bis anhin ohne Einschränkung am gesellschaftlichen Leben teilgenommen haben, sind plötzlich mit Einschränkungen ihres Bewegungsradius konfrontiert. Dies kann bedeuten, dass sie sinnstiftende Tätigkeiten zugunsten anderer – z.B. Enkelbetreuung oder freiwilliges Engagement – einschränken oder ganz unterbrechen müssen. Abgesehen davon, dass diesen älteren Menschen ein wichtiges Element ihres Alltags abhandenkommt, fehlen ihre Leistungen zugunsten der Allgemeinheit. Freiwilligen-Organisationen und Institutionen der Altersarbeit stehen somit vor der Aufgabe, neue bzw. abgewandelte Formen des freiwilligen Engagements zu entwickeln, die das Anliegen des Infektionsschutzes und den Wunsch nach sinnstiftender Tätigkeit gleichermassen gewichten. In der Erarbeitung der Konzepte sollten sie in bewährter Weise die älteren Menschen selbst einbeziehen.
Der Blick auf das gesamte Pflege- und Betreuungsnetzwerk
Ein grosser Teil der Pflege und Betreuung älterer Menschen findet zuhause statt und wäre ohne das Engagement von pflegenden und betreuenden Angehörigen, insbesondere Frauen, nicht möglich. Mehr denn je brauchen diese Angehörigen nun Hilfe. Beratungs- und Unterstützungsangebote für betreuende An- und Zugehörige müssen deshalb unbedingt aufrechterhalten werden. Aufgrund der Pandemie sind betreuende Angehörige mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert. Aufgrund ihrer Betreuungstätigkeit und des Kontakts zu stärker gefährdeten Menschen müssen sie sich u.a. selbst besonders gut schützen und sind in ihrem Alltag dadurch oft eingeschränkt. Die Reduktion von Ansteckungsrisiken kann mit Kosten verbunden sein. Diese sollten vom Staat übernommen werden. Viele Angehörige sind berufstätig und waren schon vor der Corona-Pandemie mit der anspruchsvollen Aufgabe konfrontiert, Arbeit und Betreuung unter einen Hut zu bringen. Mit einer unkomplizierten Home-Office-Regelung können Arbeitgeber hier einen wichtigen Beitrag leisten.
Pflegefachkräfte leisteten während der Corona Pandemie Ausserordentliches, was erfreulicherweise in der Öffentlichkeit weitläufig zur Kenntnis genommen wurde. Umso wünschenswerter ist es, dass die bekannten Forderungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege nun die nötige politische Aufmerksamkeit erhalten und umgesetzt werden.
Die hier gemachten Ausführungen lehnen sich an die gemeinsamen Statements der Sektionen für Geriatrische Medizin (II), Sozial- und Verhaltenswissenschaftliche Gerontologie (III), Soziale Gerontologie und Altenhilfe (IV) der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie DGGG vom 24. April und 10. Mai 2020 an.