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Nachhaltige Ernährung für alle
19.05.2020 In der Stadt Bern engagieren sich verschiedene Akteur*innen für ein nachhaltigeres Ernährungssystem. Dabei lassen sich ihre Ansprüche nicht immer mit der Wirklichkeit vereinen. Die Umweltsoziologin Evelyn Markoni und die Konsumwissenschaftlerin Franziska Götze der BFH-HAFL nahmen die «Berner Ernährungsinitiativen» genauer unter die Lupe.
Mehr als 20 Prozent der Umweltbelastung geht auf das Konto unserer Ernährung. Immer mehr Konsument*innen kaufen jedoch bewusst beispielsweise in Läden mit unverpackten Lebensmitteln ein, essen in Restaurants, die sich für die Reduktion von Food Waste einsetzen oder lassen sich – nicht erst seit der Corona-Krise – regionales Biogemüse per Fahrradkurier zu sich nach Hause liefern.
Netzwerk für nachhaltige Ernährung
Diese Angebote erreichen bisher jedoch nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Das Berner Netzwerk «KULINATA» hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, dem Thema der nachhaltigen Ernährung mehr Sichtbarkeit zu verleihen und die Stadtbevölkerung dafür zu sensibilisieren. Das Netzwerk vereint über 90 «Ernährungsinitiativen» – Lebensmittelproduzent*innen, Händler*innen, Gastronom*innen sowie Integrationsprojekte – und wurde 2018 vom Amt für Umweltschutz der Stadt Bern und der Ökonomischen Gemeinnützigen Gesellschaft Bern lanciert. Einmal jährlich findet unter gleichem Namen ein Food Festival rund um die nachhaltige Ernährung statt. 2019 war auch die BFH-HAFL als Partnerin an der Durchführung des Anlasses vertreten.
Anspruch und Wirklichkeit im Fokus
Mit welchen Herausforderungen die verschiedenen Berner Ernährungsinitiativen zu kämpfen haben und wie mit diesen umgangen werden könnte, haben wir – Dr. Evelyn Markoni, Umweltsoziologin, und Dr. Franziska Götze, Konsumwissenschaftlerin – in der Studie «Anspruch und Wirklichkeit bei der Umsetzung eines nachhaltigen städtischen Ernährungssystems» untersucht.
Die ersten Erfahrungen zeigen, dass die Ernährungsinitiativen ihre eigenen Ansprüche nicht immer in die Tat umsetzen können. So können sich Zielkonflikte ergeben, wenn etwa ein Landwirtschaftsbetrieb zwar umweltfreundlich produziert, aber ein fairer Lohn für die Mitarbeitenden aufgrund des geringen Gewinns kaum möglich ist. Auch stellt die Zugänglichkeit nachhaltiger Lebensmittel für alle Bevölkerungsschichten eine nicht zu unterschätzende Herausforderung dar: Sei es aus finanziellen Gründen, aufgrund fehlenden Bewusstseins oder weil die potentiellen Kund*innen schlicht keine Zeit haben, ihre Einkäufe – statt im Supermarkt um die Ecke – in verschiedenen Läden, auf dem Markt oder direkt vom Hof zu tätigen.
Konsument*innen in die Produktion einbeziehen
Einen Schritt weiter geht hier die Idee der sogenannten solidarischen Landwirtschaft: Die Städter*innen beteiligen sich an den Kosten und Risiken eines Landwirtschaftsbetriebs und wirken etwa beim Anbau und der Ernte mit. Dies hat auch den positiven Nebeneffekt, dass die Konsument*innen einen direkten Bezug zu saisonaler Ernährung erhalten. Solche Kooperations-Modelle können aber nur funktionieren, wenn die Städter*innen neben ihrem Berufsleben Zeit für die Feldarbeit finden.
Herausforderung Food Waste angehen
Die Untersuchung zeigte ausserdem, dass die Reduktion von Food Waste entlang der gesamten Lebensmittelwertschöpfungskette verstärkt angegangen werden muss. Andernfalls ist die regionale Versorgung der Berner Stadtbevölkerung aufgrund des begrenzten Angebots kaum möglich. Lösungsansätze sind bereits vorhanden: Einige Restaurants servieren bewusst kleinere Portionen mit der Möglichkeit zum Nachschlag oder verwerten, ganz nach dem Prinzip «Nose to tail», das ganze Tier.
Auch die Politik ist gefordert
Es gilt, gemeinsam mit den Akteur*innen der Berner Ernährungsinitiativen innovative und praktikable Lösungsansätze zu entwickeln. Denkbar wäre zum Beispiel, die Reduktion von Food Waste in den Lehrplan von Schulen und Kindergärten einzubauen, schuleigene Gemüsegärten anzulegen oder das regionale Lebensmittelangebot in den Kantinen auszubauen. Neben Aufklärungsarbeit gibt es auf politischer Ebene zusätzliche Strategien, die – ganz im Sinne der Suffizienz – helfen könnten, den Verbrauch von Energie und Ressourcen für die Ernährung zu reduzieren. So könnte etwa der Detailhandel dazu verpflichtet werden, weniger «krumme», nicht der Form entsprechende Lebensmittel auszusortieren und somit weniger Lebensmittel zu verschwenden. Zudem könnten gestaffelte Lebensmittelpreise – orientiert am Haushaltseinkommen – den Zugang zu nachhaltig produzierten Lebensmitteln für alle ermöglichen.
Nicht zuletzt sollte bei allen Diskussionen der Genuss nicht vergessen werden: Wer gemeinsam mit Freunden und Familie kocht und sich Zeit beim Essen nimmt, schätzt den Wert der Lebensmittel umso mehr.
Publikation
Die Ergebnisse dieser Vorstudie sind Anfang März 2020 als Beitrag «Anspruch und Wirklichkeit bei der Umsetzung eines nachhaltigen städtischen Ernährungssystems» in der Publikation «Postwachstumsstadt: Konturen einer solidarischen Stadtpolitik» erschienen. Das Buch, welches von Anton Brokow-Loga und Frank Eckardt herausgegeben wurde, ist im Oekom-Verlag erschienen und frei zum Download verfügbar.
Wie geht es weiter?
Das geplante Forschungsprojekt in Kooperation mit dem Centre for Development and Environment (CDE) der Universität Bern soll partizipativ, d.h. gemeinsam mit allen Berner Ernährungsinitiativen, solidarische Lösungen für die Transformation des städtischen Ernährungssystems hin zu mehr Nachhaltigkeit entwickeln. Dafür benötigt es gemäss den Autorinnen der Studie die Unterstützung der Verantwortlichen aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und nicht zuletzt von weiteren wissenschaftlichen Institutionen, um die notwendige Breitenwirksamkeit der Ernährungsinitiativen zu ermöglichen.