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Im Pflegealltag mit Diversität umgehen
16.05.2022 Das BFH-Forschungsprojekt «Caring about Diversities» untersucht die alltägliche Praxis in der stationären Langzeitpflege. Es will besser verstehen, was die Diversität der Bewohnerschaft und des Personals bedeutet und wie man im Heimalltag damit umgeht.
Welche Rolle spielt Diversität im Handeln von Gesundheitsfachpersonen? Wo und wie passiert es, dass Diversitäten im Gesundheitswesen Ungleichheiten schaffen, wie reproduzieren sie sich in alltäglichen Interaktionen und welche Veränderungspotenziale stecken in einer diversitätssensiblen Professionalität? Diesen Fragen geht der Fachbereich Pflege der Berner Fachhochschule gegenwärtig im Projekt «Caring about Diversities» nach. Es wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt und interessiert sich speziell für die kleinräumigen, alltäglichen Interaktionen in der Gesundheitsversorgung und wie darin mit Diversitäten umgegangen wird.
Altersheim als Forschungsfeld
Das Forschungsteam fokussiert hierbei auf die stationäre Langzeitpflege. Denn Pflege und Betreuung im Altersheim zu organisieren, ist besonders herausfordernd: Hohes Alter, Multimorbidität und kognitive Einschränkungen der Bewohnenden bestimmen zunehmend den Heimalltag. Die Diversität unter Bewohnenden wie Personal nimmt zu. So sind nicht nur diejenigen Personen divers und ungleich, die behandelt, betreut und begleitet werden. Auch Fachpersonen weisen eine hohe Heterogenität auf und sind in strukturelle Macht- und Ungleichheitsdimensionen eingebunden. So ist das Arbeitsfeld Altersheim beispielsweise besonders stark von Fachkräftemangel und Ressourcendruck betroffen, was auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Pflegeteams und auf ihre Arbeitsbedingungen hat. Diese vielfältigen Kontexte und Bezüge tragen Fachpersonen und Bewohnende in ihre Interaktionen hinein.
Abhängigkeit von Pflege erschwert Umgang mit Diversität
Bezeichnend für die Pflege ist – unabhängig vom Setting –, dass zwischen Fachpersonen und Nutzenden grundsätzlich eine Asymmetrie besteht: Personen, die Pflege brauchen, sind abhängig und vulnerabel. In der Langzeitpflege sind die Bewohnenden zudem nachhaltig in ihrer Autonomie eingeschränkt. Das Personal erhält dadurch viel Macht in der Ausgestaltung von Pflege und der Berücksichtigung von Diversitäten und muss dieser Abhängigkeit Rechnung tragen. Hinzu kommt, dass diese Asymmetrie auch von gesellschaftlich-strukturellen Ungleichheitsdimensionen wie z. B. Geschlecht, Bildungsstand, Hautfarbe, Migrationshintergrund oder sexuelle Identität durchsetzt ist.
Die Fachpersonen sind deshalb besonders gefordert, im Pflegealltag professionell zu handeln und sensitiv auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Versorgungsnutzenden einzugehen. Dabei müssen sie die Vorgaben berücksichtigen und innerhalb des Handlungsspielraums agieren. Gleichzeitig reproduzieren sich gesellschaftliche Ungleichheiten in interaktivem Handeln, auch pflegerischem Handeln, zum Beispiel durch Vorwegnehmen von angenommenen intellektuellen Defiziten oder durch implizites Zuschreiben von geschlechtsoder migrationsbedingten Präferenzen. Und das kann gerade hier, aufgrund der Vulnerabilitäten von Versorgungsnutzenden, diskriminierend wirken – auch wenn dahinter keine explizite Absicht steckt.
Welche Kompetenzen benötigen Pflegefachpersonen konkret, um diversitäts- und ungleichheitssensitiv zu handeln? Wie wenden sie diese Kompetenzen im Pflegealltag an, und welche Rolle spielen dabei Rahmenbedingungenwie Fachkräftemangel oder knappe Ressourcen? Diese komplexen Fragen untersucht das Forschungsprojekt «Caring about Diversities».
Diversitätskompetenz ist in der Langzeitpflege besonders wichtig
Im Altersheim bestimmt die Pflege den Alltag der Bewohnenden umfassend und formt so deren Lebenswelt entscheidend. Autonomieerhalt in der Abhängigkeit zu ermöglichen, fordert hier die Pflege genauso heraus wie das Interpretieren von Bedürfnissen vor dem Hintergrund eingeschränkter Handlungs- und Artikulationsfähigkeit. Diversitätskompetentes Handeln – so die These des BFH-Forschungsprojektes – ist in diesem Setting also besonders relevant.
Gerade in der Alltäglichkeit, die in der stationären Langzeitpflege so zentral ist, lässt sich ethnografisch beobachten, wie wir Menschen in Interaktionen handeln und was auch professionelles Handeln prägt: Wir müssen uns die Welt in Kategorien ordnen, wir müssen Situationen deuten, um kommunizieren und handeln zu können, wir müssen dies rasch, ohne gross nachzudenken, tun können. Indem wir zuordnen, vereinfachen wir, wir schliessen ein, gleichzeitig aber auch aus. Durch diese Differenzierungen entsteht implizit gesellschaftliche Ungleichheit. Gleichzeitig steckt in diesem Vorgehen aber auch Verhandlungsspielraum und damit Veränderungspotenzial. Ungleichheiten können berücksichtigt, Benachteiligungen ausgeglichen und damit auch Diskriminierungen vermindert werden.
Interaktionen ethnografisch beobachten
«Caring about Diversities» beobachtet ethnografisch, wie Pflegenden-Bewohnenden-Interaktionen situationsgebunden im Alltag ablaufen und wie darin Diversitäten und Ungleichheiten relevant oder nicht relevant werden. Eine ethnografische Forschungsstrategie zeichnet sich dadurch aus, dass sie an der Praxis teilnimmt und gleichzeitig reflektiert beobachtet, was wie getan wird. Praxis meint dabei die Interaktionen und Handlungen aller Beteiligten, sowohl der Pflegefachpersonen als auch der Bewohnenden. Zu berücksichtigen ist, dass Fachpersonen stärker regelgeleitet handeln. Sie erwerben theoretisches Wissen für den Umgang mit Diversität, und sie erlernen und routinisieren dessen Anwendung im praktischen Handeln. Theoretisches Wissen wird so zu implizitem Wissen, welches professionelles Handeln anleitet. Ein kompetenter Umgang mit Ungleichheiten bedingt jedoch auch, dass Routinen hinterfragt werden können – und das ist im hektischen Alltag herausfordernd. Wie kann das gelingen? Dieser Frage will «Caring about Diversities» auf den Grund gehen, um besser zu verstehen, was zu einer umfassend diversitätssensitiven Praxis in der Pflege beitragen kann.
Die Pflege kennt zwei etablierte Konzepte professioneller Kompetenz, die den Umgang mit Diversität anleiten: Personenzentriertheit und transkulturelle/transkategoriale Kompetenz. Das Projekt «Caring about Diversities» nutzt diese Konzepte als Reflexionsgrundlage für die Analyse der ethnografischen Beobachtungen, die seit letztem Sommer durchgeführt und dieses Jahr fortgesetzt werden. Die BFH untersucht, wie diese Konzepte im Spannungsfeld von implizitem Handeln und Reflexion praktisch umgesetzt werden. Davon ausgehend will das Forschungsprojekt ab 2023 neue Trainingsansätze für die Praxis entwickeln und erproben. Eine fundierte Konzeption von Diversitätskompetenz und ein besseres Verständnis davon, wie diese erworben, geübt und in der Alltagspraxis nachhaltig umgesetzt werden kann, bietet die Möglichkeit, den Umgang mit Diversität und damit die Pflegequalität in Heimen zu verbessern.