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Reproduktive Gesundheit: Perspektive geflüchteter Frauen in der Schweiz
13.01.2022 Wie gelingt es, die Perspektive einer marginalisierten Gruppe einzuholen? Ein Pilotprojekt der angewandten Forschung Geburtshilfe ist dieser Frage nachgegangen. Geflüchtete Frauen wurden zu ihren Bedürfnissen im Bereich der Familienplanung und Verhütung sowie zu ihren Erfahrungen in der entsprechenden Gesundheitsversorgung befragt.
Für Frauen mit Fluchtbiografie wurden in der Schweiz zentrale Zugangsbarrieren zur perinatalen Gesundheitsversorgung identifiziert (Cignacco et al., 2018). Im Zugang zu Familienplanung und Verhütungsmitteln besteht in der Schweiz für marginalisierte Personen wie beispielsweise asylsuchende Frauen nachweislich eine Versorgungslücke (Sieber, 2017). Neben dem Abbau von strukturellen Hürden wie der fehlenden Finanzierung von Verhütungsmitteln stellt sich die Frage, wie man die Gesundheitsversorgung besser auf die Bedürfnisse dieser Frauen ausrichten kann. Um bedarfsgerechte Ansätze zu entwickeln, ist eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Sichtweise der Betroffenen unerlässlich (Wegelin et al., 2021).
Das Forschungsprojekt REFPER – Reproduktive Gesundheit. Die Perspektive geflüchteter Frauen in der Schweiz hat sich dies zum Ziel gesetzt. Eine qualitative Studie erhebt die Bedürfnisse geflüchteter Frauen bezüglich Familienplanung und Verhütung sowie ihre spezifischen Erfahrungen im hiesigen Gesundheitssystem. Dabei soll auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Erfahrungen geflüchteter Frauen im Bereich ihrer sexuellen und reproduktiven Gesundheit in einem Spannungsfeld verschiedener soziokultureller und politischer Kräfte stehen. So beschreibt eine Frau aus Syrien ihre Zeit in der kollektiven Unterbringung in der Schweiz als schwierig. Sie habe sich die Informationen zur Gesundheitsversorgung rund um Frauengesundheit und Familienplanung mit sehr viel Eigeninitiative selbst suchen müssen. Ihre Mitbewohnerinnen meinten zudem, dass es von den Behörden unerwünscht sei, dass sie schwanger würden. Solche und andere gesellschaftliche Diskurse rund um Reproduktionspolitiken können tiefgreifende Konsequenzen auf das individuelle Verhalten von geflüchteten Personen im Gesundheitssystem haben.
Pilotphase zur Prüfung der Machbarkeit der Studie
Im Frühling 2021 wurde dem geplanten Projekt eine mehrmonatige Pilotphase vorgelagert, um den eher schwierigen Rahmenbedingungen wie die strukturell marginalisierte Zielgruppe sowie sensible Fragestellungen rund um Familienplanung und Verhütung Rechnung zu tragen. Das Projektteam sammelte erste Erfahrungen in der Datenerhebung und prüfte so die Machbarkeit der Studie. Im Fokus standen die Fragen, ob ein Zugang zu dieser marginalisierten Gruppe gelingt und ein Vertrauensverhältnis gebildet werden kann, welches den Frauen ermöglicht, offen über ihre Erfahrungen zu sprechen. Dabei standen konkrete Fragen im Raum: Welche Kontakte und Wege führen zur Zielgruppe, und was muss bei der Kontaktaufnahme beachtet werden? Wie könnte man das Setting der Interviews gestalten, und wie wird mit den Fragen der ungleichen Machtverhältnisse umgegangen? Schliesslich interessierte das Projektteam, ob geflüchtete Frauen überhaupt bereit waren, über die Themen Sexualität, Familienplanung und Verhütung zu sprechen. Die während der Pilotphase gemachten Erfahrungen führten insgesamt zu einer positiven Einschätzung der Durchführbarkeit der Forschung und wurden zusammen mit den methodologischen Erkenntnissen in einem umfassenden Pilotbericht festgehalten. Zwei massgebliche Prozesse waren der kontinuierlich und sorgfältig ausgebaute Vertrauensaufbau zu den Teilnehmerinnen im Vorfeld der Interviews und der Entscheid für eine erweiterte Zusammenarbeit mit der interkulturellen Dolmetscherin im gesamten Forschungsprozess.
Zugang zum Feld: Vertrauensaufbau als Basis für valide Daten
Eine Schwierigkeit bei Interviews mit Geflüchteten ist die formale Ähnlichkeit eines Forschungsinterviews mit Befragungssituationen während des Asylverfahrens. Daraus ergibt sich die Herausforderung, das Vertrauen und die Offenheit der geflüchteten Frauen gegenüber dem Forschungsprojekt zu gewinnen. Gerade vor dem Hintergrund des Desirability Bias (Bergen & Labonté, 2020), des Phänomens der sozial erwünschten Antworten in der Interviewsituation, ist eine Vertrauensbasis eine zentrale Grundlage, um valide Daten zu erhalten. Den eigentlichen Interviews gingen daher ein bis zwei Vortreffen mit potenziellen Interviewpartnerinnen als vertrauensbildende Massnahme voraus. Bei diesen Treffen wurde den Frauen das Forschungsvorhaben erläutert und um eine proaktive Rückmeldung gebeten, sollten sie an der Studie teilnehmen wollen. Aufgrund der Arabischkenntnisse der Projektleiterin Milena Wegelin konnte vorerst ohne Übersetzung direkt Kontakt mit den Frauen aufgenommen werden. Dies förderte und vereinfachte den Vertrauensaufbau massgeblich – folglich wurde die Zielgruppe im Laufe der Pilotphase auf diese Sprachgruppe eingegrenzt. Als die geflüchteten Frauen von den verschiedenen Aufenthalten der Projektleiterin im Nahen Osten erfuhren, liess sich schnell eine gemeinsame Basis und Nähe für weitere offene Gespräche erschliessen, was sich positiv auf das Interview auswirkte. In den Vortreffen wurde auch die Unabhängigkeit der Forschung von Staat und Asylwesen ausgeführt und explizit darauf hingewiesen, dass die teilnehmenden Frauen in ihrer Rolle als «Expertinnen qua ihrer Biografie» interviewt würden. Bei den Interviewterminen war sodann die interkulturelle Dolmetscherin Nour Abdin anwesend, welche eine wörtliche Übersetzung garantierte. Nour Abdin war mit dem Forschungsprojekt bereits vertraut: Ihre spezifischen Erfahrungen aufgrund ihrer eigenen Fluchtbiografie und ihr Wissen über die Thematik der Familienplanung und Verhütung waren vorgängig in einem Expertinnen-Interview erhoben worden. Auch den Leitfaden für die Interviews entwickelten Milena Wegelin und Nour Abdin gemeinsam. Eine zentrale Erkenntnis in diesem Prozess war, dass ein erfolgreicher Einstieg ins Interview an der individuellen reproduktiven Lebenssituation der jeweiligen Frauen anknüpfen musste, um dann im weiteren Verlauf des Interviews schrittweise auf die Themen der Familienplanung und Verhütung überzuleiten. Hatte die Interviewpartnerin beispielsweise hier in der Schweiz ein Kind zur Welt gebracht, war dieses Ereignis der Einstieg ins Gespräch.
Partizipation der interkulturellen Dolmetscherin im Forschungsprozess
Der enge Austausch mit der interkulturellen Dolmetscherin Nour Abdin während der Pilotphase führte dazu, ihre Arbeit im Projektteam genauer zu definieren. So konnte Bezug genommen werden auf wissenschaftliche Diskussionen über muttersprachliche Interviewführung mit interkultureller Dolmetschung in der qualitativen Forschung. Gegenstand dieser Debatten sind u. a. die Rolle und die erforderlichen Kompetenzen der Dolmetscher*innen (Wallin & Ahlstrom, 2006; Lauterbach, 2014) sowie auch die Rahmenbedingungen der Arbeit von Dolmetscher*innen und die Sichtbarmachung bzw. Anerkennung ihrer Arbeit im Forschungsprozess (Enzenhofer & Resch, 2011). Für den weiteren Verlauf des Forschungsprojekts wählte das Projektteam einen Ansatz, welcher die Dolmetschung als integrativen Bestandteil einer prozesshaften Forschungsarbeit anerkannt und nicht als externe Leistung deklariert. So nimmt die besagte Arabisch-Dolmetscherin mittlerweile eine erweiterte Rolle als Teammitarbeiterin ein. Diese Vorgehensweise erlaubt es, ihr spezifisches Wissen in den Forschungsprozess zu integrieren und sichtbar zu machen, so beispielsweise in die Rekrutierung der Teilnehmerinnen, in die Überarbeitung der Fragestellungen, in die Entwicklung der Leitfäden, in die Transkription der Interviews und in die Analyse der Daten. Dabei wird die Mitarbeit der interkulturellen Dolmetscherin am zyklisch-iterativen Forschungsprozess entsprechend transparent gemacht, indem sie als Teil des Forschungsteams auch als Co-Autorin des Proposals fungiert und an Publikationen mitwirkt.