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«Ambulante psychiatrische Versorgung kann Zwangsmassnahmen reduzieren»
15.11.2022 Verschiedene Medienberichte haben in letzter Zeit einen Fokus auf den Anstieg von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie gelegt. Als Ursache wurde der Mangel an Pflegepersonal, das sich um Menschen in Isolationsräumen kümmert, identifiziert. Für Prof. Dr. Dirk Richter gibt es aber noch einen weiteren Grund: Die Vernachlässigung der ambulanten psychiatrischen Versorgung.
Dirk Richter, welche Rolle nehmen Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie ein?
Zwangsmassnahmen werden angewendet, wenn eine psychische Störung und ein erhebliches gesundheitliches Risiko für die eigene Person oder für andere Menschen existieren. Sie dürfen eigentlich nur dann vollzogen werden, wenn alle Alternativen ausgeschöpft sind und keine weiteren Möglichkeiten ohne Zwang gesehen werden. Gleichwohl sind diese Massnahmen gegen den Willen einer Person sehr belastend für die Patient*innen und die Mitarbeitenden. Zahlreiche Studien haben aufgezeigt, dass Zwangsmassnahmen traumatisierend sein können und das Verhältnis zwischen Patient*innen und Mitarbeitenden in der psychiatrischen Versorgung negativ beeinflussen.
Medienberichte zeigen, wie Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie immer häufiger eingesetzt werden. Warum dieser Anstieg?
Wir haben schon vor der Pandemie eine Entwicklung gehabt, bei der fürsorgerische Unterbringungen und damit auch das Risiko von Zwangsmassnahmen zugenommen haben. Dieser Trend hat sich während der Pandemie verstärkt. Die Hintergründe sind vielschichtig: Zum einen kämpfen die psychiatrische Versorgung insgesamt, vor allem aber die Kliniken, mit dem Fachkräftemangel. Da die Kliniken eine Versorgungsverpflichtung haben, können sie die unfreiwilligen Eintritte nicht ablehnen und müssen schwierige Situationen mit knappen personellen Ressourcen bewältigen. Zum anderen haben wir in der Schweiz ein Problem mit dem unzureichenden Ausbau der ambulanten Versorgung, die viele unfreiwillige Eintritte verhindern könnte.
Wie hilft die ambulante Versorgung, Zwangsmassnahmen zu verhindern?
Zwang auf einer Akutstation ist meist der Endpunkt einer sich schon länger anbahnenden psychosozialen Krise, die mit der Einweisung in eine geschlossene Station ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden hatte. Mit einer ambulanten Betreuung können wir bereits vor der Einweisung Massnahmen ergreifen, die das Risiko eines stationären Eintritts verkleinern. Eine gut ausgebaute ambulante psychiatrische Versorgung kann so mithelfen, Zwangsmassnahmen reduzieren.
Gibt es Beispiele für eine funktionierende ambulante Versorgung?
Wir haben in verschiedenen Bereichen Angebote wie das Home Treatment im Kanton Aargau und in Winterthur. Dort werden Menschen, die ein hohes Risiko für einen stationären Eintritt haben, im häuslichen Umfeld mit verschiedenen Professionen begleitet und behandelt. In den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern existiert die ambulante Wohnbegleitung «WohnAutonom». Hier werden Menschen mit ausgeprägten psychischen Problemen im Alltag in ihrer eigenen Wohnung begleitet. Eine Studie, an der ich beteiligt war, konnte zeigen, dass eine solche Wohnbegleitung das Risiko des stationären Eintritts erheblich reduziert.
Warum wird die ambulante Versorgung nicht ausgebaut?
Während die stationären Behandlungen von den Kantonen und den Krankenversicherungen gemeinsam finanziert werden, sind für die ambulanten Leistungen allein die Versicherungen zuständig. Seit vielen Jahren gelingt es nicht, den ambulanten Tarif TARMED zu revidieren, was dazu führt, dass die Leistungen bis heute zu Preisen der 1990er Jahre vergütet werden. Damit sind ambulante Erträge nicht kostendeckend und werden daher in einem nicht hinreichenden Ausmass angeboten.