- News
Neue Wege in der psychiatrischen Versorgung: Eine Einschätzung
27.09.2023
Ein Pilotprojekt soll die Versorgungssituation in den Berner Psychiatrien verbessern. Angesichts des Versorgungsengpasses eine nachvollziehbare Massnahme, meinen Dirk Richter und Tobias Müller. Und geben zu bedenken, dass das Prinzip der gemeindenahen Versorgung nicht aus den Augen verloren werden darf.

Am 1. September ist das Pilotprojekt «Koordinationsstelle Psychiatrie» gestartet. Ziel des Pilotprojekts ist die Verbesserung der psychiatrischen (Notfall-)Versorgung im Kanton Bern. Im Auftrag der Gesundheits-, Sozial-, und Integrationsdirektion (GSI) betreiben die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern in Kooperation mit acht psychiatrischen Listenspitälern des Kantons neu eine Koordinationsstelle und verwalten die verfügbaren Betten in der Erwachsenenpsychiatrie. Dies teilten sie in einer gemeinsamen Medienmitteilung mit.
Positive Entwicklung für alle Beteiligten?
Prof. Dr. Dirk Richter, Leiter Innovationsfeld Psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung an der BFH, hält diese Massnahme aus Sicht der Kliniken und des Kantons für nachvollziehbar: «Der Druck auf die stationäre Versorgung ist gross und in verschiedenen Kliniken können Betten und Stationen wegen Personalmangels zeitweise nicht belegt werden. Aus dieser Sicht ist es sinnvoll, die vorhandenen freien Plätze besser zu nutzen». Für die Betroffenen stelle sich die Situation jedoch anders dar: «Menschen in schweren Krisensituationen werden unter Umständen fern von ihrem Wohnort und ihren sozialen Bezügen wie ihrer Familie behandelt. Das widerspricht dem allgemein anerkannten Grundsatz der gemeindenahen Behandlung», so Dirk Richter.
Nur rund ein Drittel der behandlungsbedürftigen Personen hat in den letzten 12 Monaten Hilfe erhalten.
Laut Prof. Dr. Tobias Müller, Dozent am Institut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik, zeigt sich eine Unterversorgung sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. «Befragungen von Therapeut*innen zeigen, dass Patient*innen im Durchschnitt 6 Wochen auf einen Therapieplatz warten müssen», hält Müller fest. Viele Praxen stossen an ihre Kapazitätsgrenzen und verhängen Aufnahmestopps. «Schätzungen für die Schweiz zeigen, dass etwas mehr als ein Viertel der Bevölkerung in den letzten 12 Monaten unter psychischen Problemen gelitten hat. Aber nur rund ein Drittel der behandlungsbedürftigen Personen hat Hilfe erhalten», führt der Gesundheitsökonom aus.
Viele Gründe für den Versorgungsengpass
Dazu würden mittel- und langfristige Aspekte beitragen. «Die Pandemie hat zu einer Verschärfung des Problems beigetragen», so Müller. «Junge Menschen sind seitdem noch stärker von einer Unterversorgung betroffen.» Dirk Richter ergänzt: «Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel generell anhält.» Im stationären Setting sei ein deutlicher Mangel an Psychiater*innen und Pflegefachpersonen spürbar. So würden sich immer weniger Medizinstudent*innen dafür entscheiden, eine Weiterbildung in der Psychiatrie zu absolvieren. «Das dürfte unter anderem auf die deutlich tiefere Entlöhnung im Vergleich zu anderen Fachrichtungen zurückzuführen sein», sagt Tobias Müller.
Neben den Problemen in der Angebotssituation würden zudem viele Patient*innen mit psychischen Erkrankungen keine Hilfe in Anspruch nehmen. «Die Gründe dafür sind vielschichtig», so Tobias Müller. «Als wichtigste Faktoren für die Unterversorgung sehen die Leistungserbringer*innen immer noch die Angst vor Stigmatisierung und die fehlende Krankheitswahrnehmung. Eine untergeordnete Rolle scheinen finanzielle Barrieren (z. B. Selbstbeteiligung durch Selbstbehalt) zu spielen.»
Gemeindenah und ambulant – ein gesundheitspolitisches Ziel
Aus Sicht von Dirk Richter ist der Versorgungsengpass auf eine klare Fehlentwicklung in der psychiatrischen Versorgung zurückzuführen. «Kantone, Krankenkassenverbände und Kliniken können sich seit Jahren nicht auf eine Reform der ambulanten Tarife einigen. Diese wäre notwendig, um die ambulanten Leistungen auszubauen und für die Leistungserbringenden attraktiver zu machen,» sagt der Pflegeforscher. Viele Menschen könnten ambulant genauso gut – wenn nicht sogar besser – versorgt werden als stationär. Er plädiert dafür, dass Politik, Krankenkassen und Kliniken nicht gegeneinander, sondern miteinander agieren, um eine gemeindenahe und ambulante Versorgung zu erreichen. «Das ist seit Jahren ein gesundheitspolitisches Ziel und wird von den Betroffenen erwartet.»