Rückblick Projekt «Urban Vehicle»

27.03.2023 Gemeinsam mit Leserinnen und Lesern aus der ganzen Schweiz entwickelten 23 Studierende der Automobil- und Fahrzeugtechnik in nur vier Tagen ein Konzept für ein Elektrofahrzeug.

Das Projekt

In der Woche vom 3. bis 6. April 2023 stand bei den angehenden Automobil- und Fahrzeugingenieur*innen im 2. Studienjahr ein besonderes Modul auf dem Studienplan: die Projektwoche «Urban Vehicle».

In nur vier Tagen konzipierten die Studierenden ein kleines, elektrisch angetriebenes Fahrzeug, optimiert für den täglichen Pendlerverkehr. Nebst der fachlichen Unterstützung der Dozierenden und Expert*innen, wurden bereits von Beginn an auch die potenziellen Kund*innen einbezogen. Mittels Online-Umfragen über die Medien der Tamedia-Gruppe wurden die Bedürfnisse der Schweizer Bevölkerung abgeholt, welche dann direkt ins Projekt eingeflossen sind.

Die Teams

Die 23 Studierenden arbeiteten von Montag bis Mittwoch in 5 Teams an jeweils einem Konzept. Es gab 3x 5er-Teams und 2x 4er-Teams. Am Donnerstagmorgen wurden die Gruppen neu nach Kompetenzen zusammengestellt und arbeiteten gemeinsam am finalen Konzept.

  • Projektmanager / Media (1 Person für den Austausch zwischen den Teams)
  • Vehicle Design (4 Personen + 1 PM / Media)
  • Interior Design (4 Personen + 1 PM / Media)
  • Mechanik (5 Personen + 1 PM / Media)
  • Elektronik (5 Personen + 1 PM / Media)

Die fünf Konzepte

Das Team um das Konzept EVolution verfolgte einen konsequenten Ansatz einer innerstädtischen Mobilitätslösung. Durch die zwei parallelen Raupen bleibt für die Fahrgastzelle zwischen dem Antrieb viel Raum. Das Fahrzeug wird durch unterschiedliche Drehgeschwindigkeiten, ähnlich einem Raupenfahrzeug gelenkt, was auch einem Drehen im Stand bei engen Parkverhältnissen zugutekommt. Aufgrund der anspruchsvollen Regelung des selbstbalancierenden Fahrzeugs ist die maximale Geschwindigkeit jedoch auf 25 km/h beschränkt.

evolution-konzept-urban-vehicle-bfh

Die sportliche Form des Konzepts EVector fällt auf. Trotz einer Spurbreite von nur 1m soll sich das Fahrzeug dank einem Neigefahrgestell auch bei höheren Geschwindigkeiten sicher, das heisst ohne Kippgefahr durch die Kurven lenken lassen. Gesteuert wird das Fahrzeug mit einem Joystick, damit trotz engen Platzverhältnissen im Cockpit ein grosszügiges Raumgefühl entsteht. Der sportliche Einstieg über das aufklappbare Dach erfüllt jedoch wohl nicht alle Komfortansprüche.

evector-konzept-urban-vehicle-bfh

Konsequent nach der Designregel «Form follows Function» - Das Team rund um ZAP-T setzte sowohl die gewohnten Seitentüren, der komfortable hohe Einstieg und einen einfach zugänglichen Kofferraum im Heck um. Auch hier soll das Fahrzeug trotz schmaler Spurbreite dank dem passiven Neigemechanismus sicher durch die Kurven fahren. Weiter soll dank Sitz- und Lenkradheizung, trotz ungeheizter Kabine ein angenehmes Klima im Winter erreicht werden.

zap-t-konzept-urban-vehicle-bfh

Hohe Stirn und viel Glas für einen optimalen Überblick von Kopf bis Fuss, ein integrierter Einstiegstritt, sowie viel Kopffreiheit ermöglichen trotz den kleinen Abmessungen einen unerwarteten Komfort. Zwei unabhängige Antriebsmotoren in den Vorderrädern, sowie ein Schlepprad am Fahrzeugheck erlauben auch hier eine Manövrierfähigkeit auf engsten Raum. Der hohe Schwerpunkt und das agile Fahrwerk beschränken aber auch bei diesem Konzept die Maximalgeschwindigkeit auf 25 km/h.

u-way-konzept-urban-vehicle-bfh

Urbane Mobilität querdenken – Das Team e-WheelZ liess konventionelle Ansätze hinter sich und inspirierte sich an der Zukunft. So futuristisch dieses Konzept auch wirkt, ein solches Fahrzeug liesse sich grundsätzlich mit einigen Einschränkungen umsetzen. Ob es bei der Mehrheit der Leserschaft Gefallen finden würde?

e-wheelz-konzept-urban-vehicle-bfh

Das finale Konzept

Aus den besten Ideen der fünf vorangehenden Arbeiten ist nun am vierten, und somit letzten Tag, der finale Konzeptvorschlag für die Leser entstanden. Der weitaus anspruchsvollste Teil dieser verkürzten Woche, wie sich schon zum Start des Tages herausstellte.

Einige Erkenntnisse aus der Woche haben sich im zusammengeführten Konzept verdichtet.
So soll das für den Nah- und Pendelverkehr optimierte Fahrzeug eine Spurweite von nicht mehr als 1 Meter aufweisen. Damit sollen die Vorteile des reduzierten Platzanspruchs und die Gewährung des Verkehrsflusses auch bei reduzierter Geschwindigkeit erreicht werden. Die verbaute Batterie soll eine Reichweite von 80km im Sommer und 40km im Winter bei eingeschalteter Heizung von Sitz, Bedienelemente und Windschutzscheibe für bedarfsgerechte Wärme und klare Sicht ermöglichen. Der komfortable Fronteinstieg wurde aus dem U-Way Konzept übernommen, das Neigefahrwerk aus den beiden Projekten der Teams EVector und ZAP-T.

Auch soll der altbekannte «Reservekanister» wieder Einzug in den Elektroflitzer halten. Ein tragbarer und herausnehmbarer Zusatzakku soll nebst der fix integrierten Hauptbatterie eine Extrareichweite bis zu 15km ermöglichen. Alleine mit diesen 15km Reichweite lassen sich die statistisch 75% aller täglichen Fahrten auch ohne Zugang zur Steckdose am Parkplatz ermöglichen.

Im Verlaufe des Projektes blieb allerdings der zweite Sitz auf der Strecke. Form und Grösse des finalen Konzepts liessen sich in Kombination mit den anderen Ansprüchen damit nicht vereinbaren. Hier dürfte jedoch noch nicht das letzte Wort gesprochen sein. Die Entwicklung des Fahrzeuges hat mit dieser Phase einen wichtigen Meilenstein erreicht, ist jedoch nicht abgeschlossen. Mehrere Runden der Anpassungen und Verbesserungen stehen uns im Entwicklungsprozess noch bevor.

Zum Schluss noch der umstrittene Joystick, nicht nur bei der Leserschaft, sondern auch im gesamten Team – auch dieser hat den Einzug ins finale Konzept geschafft. Denn, falls er halten kann, was er verspricht, dürfte er einen wesentlichen Beitrag zum Fahrspass und somit auch für eine breite Akzeptanz eines optimierten Nahverkehrsfahrzeugs beitragen. Ein nicht zu unterschätzendes Argument – denn nur auf der Basis der Vernunft lassen sich bekanntlich keine durchschlagenden Innovationen umsetzen. 

konzept-urban-vehicle-bfh
konzept-urban-vehicle-tuer-bfh
konzept-urban-vehicle-sitz-bfh

Kurzinterview mit dem Projektleiter Peter Affolter

Während wir bei der Vorbereitung wohl eher ein sportliches, funktionales und puristisches Leichtfahrzeug vor unserem geistigen Auge hatten, mussten wir uns nach Durchsicht der Umfrageresultate eingestehen, dass bei diesem Alltagsfahrzeug für die Leserschaft Komfort mit grossem Abstand an erster Stelle stehen soll.

Ein leichter Einstieg, Komfort und hohe Effizienz sollen das Fahrzeug charakterisieren. Sportliche, aerodynamische Linien wurde damit dem Komfortanspruch der Leser klar untergeordnet. Nur eine Minderheit ist bereit einen tiefen Einstieg und enge Platzverhältnisse auf sich zu nehmen, damit eine tiefliegende, schnittige Linie im Fahrzeugdesign erreicht werden kann.

Auch die selbstverständlichen Annehmlichkeiten, wie USB-Ladebuchse, Mobiltelefon- und Getränkehalter sollten irgendwo im finalen Cockpit platziert werden können. Dies, und den Wunsch einer Heizung haben wir aufgenommen, sowie auch Stauraum für Gepäck. Auf aussergewöhnlichen Schnickschnack darf gemäss der Leserschaft dafür getrost verzichtet werden.

Hätten wir die Wünsche der Leserschaft einfach nach dem Mehrheitsprinzip der Abstimmung umgesetzt, wäre wohl ein weiterer Kleinwagen, wie zum Beispiel der «smart fortwo» entstanden. Dieses Fahrzeug erfüllt bereits heute alle gestellten Wünsche der Leserinnen und Leser zu 100%.

Dies ist kein Zufall, denn die grossen Autobauer richten sich konsequent nach den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Kunden aus. Gerade dieser Anspruch an Komfort, Sicherheit und Fahrdynamik führte jedoch in den letzten 20 Jahren zu 20% schwereren und auch grösseren Autos. Da unser Projekt keine kommerziellen Ziele verfolgt, haben wir uns die Freiheit genommen, gewisse Wünsche der Leserschaft kritisch nach versteckten Botschaften zu hinterfragen und uns auch einmal über die allgemeinen Standardkriterien hinwegzusetzen und Neuland zu betreten.

Beispiel gefällig? Die Anforderung der 2/3 Mehrheit der Leser an die Maximalgeschwindigkeit mit 65km/h ist offensichtlich eine klare Ansage. Schliesslich soll das Fahrzeug insbesondere innerorts mit dem Verkehrsfluss mithalten können und nicht als lästiges Verkehrshindernis wahrgenommen werden. Was wäre aber, wenn das Fahrzeug so schmal gebaut wird, dass es wie ein Fahrrad am Strassenrand fahren könnte? Der Verkehr könnte trotz reduzierter Geschwindigkeit des Leichtfahrzeugs ungehindert fliessen. Und dies nicht nur innerorts, sondern auch ausserorts auf der Landstrasse. Der elektrische Energiebedarf pro gefahrenen Kilometer kann durch die geringere Fahrgeschwindigkeit reduziert werden, was die Reichweite ohne erneute Batterieladung erhöht. Eine Reduktion der Geschwindigkeit auf 45km/h erlaubt dazu die Immatrikulation des Fahrzeugs in einer niedrigeren Fahrzeugkategorie, womit dieses Fahrzeug auch ohne Autofahrausweis gefahren werden kann und damit zusätzlich auch für Menschen mit Einschränkungen zugänglich wird.
 
Ein weiteres Beispiel stellt mit 73% das doch klare Bekenntnis der Leserschaft für ein Steuerrad dar. Hier haben wir uns gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde ein Fahrzeug mit einem Joystick zu lenken. Attraktive Gründe für eine Joysticklenkung gab es aus Sicht der angehenden Ingenieure schlussendlich einige. Ein Steuerrad nimmt einen beträchtlichen Raum im Cockpit ein, schmälert damit die Zugänglichkeit zum Fahrersitz und reduziert das Raumgefühl beträchtlich. Zudem liegt es genau im Bereich der höchsten Verletzungsgefahr bei einer Frontalkollision. Eine Joysticklenkung könnte nicht nur ein neuartiges Fahrgefühl, ähnlich dem Fliegen eines Flugzeugs bescheren, sondern auch einen wesentlichen Beitrag für einen komfortablen Einstieg und zur zusätzlichen Fahrzeugsicherheit beitragen. Ausprobieren! lautete der allgemeine Tenor der Entwicklungsteams und so soll in den nachfolgend fahrbaren Funktionsmustern eine neuartige Joysticksteuerung integriert werden. Der finale Entscheid soll damit in eine spätere Entwicklungsphase verschoben werden.

 

Für den Konzeptentwicklungsprozess war das Leserfeedback sehr wertvoll. Zugegeben, die Fragen an die Leser waren teilweise etwas starr und einfach formuliert, was sich auch aus einigen Leserkommentaren entnehmen liess. Das direkte und ehrliche Feedback der Leserschaft ermöglichte uns jedoch eine entsprechend kritische Haltung aus Sicht der Anwender einzubringen. Damit möchten wir uns als Projektteam an dieser Stelle bei den rund 3000 Lesern, welche sich an diesem Projekt aktiv beteiligt haben sehr herzlich bedanken.

Nebst den reinen Abstimmungen haben wir uns auch aufmerksam durch die zahlreichen Kommentare gelesen und diese beim morgendlichen Briefing in unsere Arbeit einfliessen lassen. An dieser Stelle zu erwähnen sind auch die direkten Nachrichten, welche wir im Rahmen dieser viertägigen Herausforderung entgegennehmen durften. Zum Beispiel von einem ehemaligen Karosseriebauer, welcher uns reich bebildert und eindrucksvoll seine damaligen Projekte aus den 70er Jahren vorstellte. Von einem Kleinfahrzeugsammler, welcher uns seine Erfahrung als Unterstützung anbot. Von der Seniorin, welche mit dem Gedanken spielt, ihren Fahrausweis abzugeben, aber aufgrund der doch eher gewöhnungsbedürftigen Designs der verfügbaren Seniorenfahrzeuge mit dem Entscheid hadert und darum den Fortschritt des Projekts mit Interesse verfolgt. Weitere Zusendungen von bereits geglückten und professionellen Eigenbauten mit ansprechenden Designs.

Die Leser*innen haben sich eingehend und in allen Facetten mit dem Thema Leichtmobilität auseinandergesetzt. Dies war während der herausfordernden Praxiswoche ein unglaublich wertvoller Motivator und hat uns nebst der Entwicklungsarbeit als Ingenieure immer wieder sehr nahe an die Realität und Bedürfnisse unserer zukünftigen Kundinnen und Kunden gebracht – eine Kollaboration mit sehr viel Lerneffekt und wertvollen Erfahrungen für uns alle!

Wie geht das Projekt weiter?

Das Konzept wird noch einige Male überarbeitet werden, wie dies in einem Entwicklungsprozess normal ist (iterativer Innovationsprozess).

Fest steht bereits, dass gewisse Ansätze aus dem Projekt mit der Entwicklung von Funktionsmustern und Prototypen im Rahmen von Projekt- und Diplomarbeiten weiterverfolgt werden sollen. Bei einigen der ausgearbeiteten Ideen sehen wir sogar ein gewisses Potential für eine Patentanmeldung.

Sie wollen keine News mehr verpassen?

Folgen Sie uns auf Social Media und bleiben Sie auf dem Laufenden!

Mehr erfahren