«Blick über Grenzen ist wichtig»

18.07.2024 Die Gruppe Internationale Landwirtschaft feiert ihr 30-jähriges Bestehen. Leiterin Nancy Bourgeois blickt zurück und beleuchtet die Rolle der Schweiz.

Es ist ein einzigartiger Studiengang in der Schweiz und  fast einzigartig in Europa
«Es ist ein einzigartiger Studiengang in der Schweiz», sagt Nancy Bourgeois.

Frau Bourgeois, Sie sind Leiterin der Gruppe Internationale Landwirtschaft (IL) an der BFH-HAFL. Sie haben schon viel von der Welt gesehen. Wo hat es Ihnen am besten gefallen?

Alle Länder waren faszinierend, aber sehr unterschiedlich. Dennoch habe ich eine besondere Beziehung zu Vietnam, wo ich acht Jahre lang gelebt und gearbeitet habe. Wahrscheinlich, weil ich viel Zeit und Energie in das Erlernen der Sprache investiert habe und daher tief in die Kultur eintauchen konnte. Mehrere Jahre lang erforschte ich dort und in Laos den grenzüberschreitenden Handel mit Nutz- und Wildtieren und seine Rolle bei der Ausbreitung von Krankheiten.

Warum gerade dieses Thema?

Das Konzept von Grenzen fasziniert mich, vielleicht weil ich auf einem Bauernhof in der Nähe der französischen Grenze aufgewachsen bin. Im Sommer weideten die Milchkühe meines Onkels im französischen Jura, und bis ich 18 war, nahm ich fast jedes Jahr am Alpaufzug über die Grenze teil. Damals war ich noch nicht viel gereist, und der Alpaufzug eröffnete mir eine neue Welt.

Mit welchen Forschungsthemen befasst sich die Gruppe IL aktuell am meisten?

Unsere Forschung ist sehr vielfältig. Der Fokus liegt auf pflanzliche Produktion, tierische Produktionssysteme, sozioökonomische Wertschöpfungsketten und Berufsbildung. Bei den Studierenden standen in den letzten Jahren Themen wie Agroforstsysteme, nachhaltige Landwirtschaft, Analysen von Wertschöpfungsketten und zunehmend auch Aquakulturen im Vordergrund.

Gemäss dem KOF-Globalisierungsindex ist die Schweiz das am stärksten globalisierte Land der Welt.

Nancy Bourgeois Leiterin Internationale Landwirtschaft BFH-HAFL

Was hat sich in der IL-Forschungsarbeit im Vergleich zu vor 30 Jahren am meisten verändert?

Wir stehen in einem härteren Wettbewerb, um Projekte im Ausland zu akquirieren und müssen die Finanzierung unserer Forschung diversifizieren. Die Mitarbeitenden arbeiten auch zunehmend in fragilen Kontexten, einschliesslich Konfliktgebieten, an der Schnittstelle zwischen Entwicklung und humanitärer Hilfe. Die Komplexität der Forschungsprojekte hat ebenso zugenommen wie das Ausmass und das Tempo der globalen Herausforderungen, an denen viele Finanzierungs- und Durchführungsakteure beteiligt sind. Partnerschaften sind notwendig, und es ist nicht immer einfach, den Überblick über diese komplexen Themen zu behalten.

Gibt es Projekte aus den vergangenen Jahren, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Ja, nämlich die Evaluation der Nahrungsmittelhilfe mit Schweizer Milchprodukten, ein Programm, das der Bund durchgeführt hat. Unser Team besuchte Länder, die an dem Programm beteiligt waren. Ich reiste in den Sudan, in ein grosses Flüchtlingslager in Darfur. Dort realisierte ich, was es bedeutet, völlig vom guten Willen und den Ressourcen anderer abhängig zu sein, um zu überleben. Die extreme Verletzlichkeit der Menschen, denen ich begegnete, meist Frauen, Kinder und Säuglinge, hat mich sehr bewegt.

Was sind die grössten Herausforderungen, denen sich die Gruppe IL stellen muss?

Herausfordernd in der Lehre ist die bescheidene Zahl der Studierenden mit durchschnittlich 10 pro Jahr und die schwankende Grösse der Jahrgänge. Wir entwickeln derzeit eine Strategie zur Erhöhung und Stabilisierung dieser Zahlen. Die Gruppe IL ist wie viele andere Akteure im globalen Süden mit der Frage der Lokalisierung konfrontiert; dies ist sowohl eine Chance als auch eine Herausforderung. Wir sehen unsere Rolle als Forschungspartnerin in einem Prozess der gemeinsamen Schaffung von Wissen und nicht im Transfer von Technologien, Wissen oder Kompetenzen.

Welches sind die Herausforderungen, vor denen die Schweiz steht? Was kann sie in dieser globalen Welt erreichen?

Gemäss dem KOF-Globalisierungsindex ist die Schweiz das am stärksten globalisierte Land der Welt. Ein besseres Verständnis der internationalen Dimensionen von Agrarproduktion, -handel und -konsum wird von den Studierenden oft als Motivation für ein IL-Studium genannt. Ich bin überzeugt, dass die Schweizer Landwirtschaft von Aufgeschlossenheit und Neugierde nur profitieren kann. Junge Menschen sollten verstehen, wo und von wem der Grossteil der Lebensmittel weltweit produziert wird, nämlich von Kleinbauern in Ländern des globalen Südens.

Warum sollte man sich für ein IL-Studium an der BFH-HAFL entscheiden?

Es ist ein einzigartiger Studiengang in der Schweiz und fast einzigartig in Europa. Er vermittelt den Absolvent*innen ein solides theoretisches und praktisches Wissen über die Landwirtschaft in der Schweiz und im globalen Süden. Während des Studiums und des Auslandspraktikums haben die Studierenden zudem die Möglichkeit, ihre interkulturellen Kompetenzen zu entwickeln. IL-Absolvent*innen haben hervorragende Chancen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt. Neben ihren fachlichen Kompetenzen zeichnen sie sich oft auch durch ihre Soft Skills aus, etwa die Fähigkeit, die eigene Komfortzone zu verlassen.


Der Artikel stammt aus: focusHAFL 1/24

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Fachgebiet: Life Sciences + Lebensmittelwissenschaften, Agronomie + Wald