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Forschungsprojekt ermöglicht erweiterten Blick auf reproduktive Rechte und Gesundheit
26.08.2024
Ein BFH-Forschungsteam hat die Perspektive geflüchteter Frauen auf die Gesundheitsversorgung untersucht. Die Erkenntnisse teilten sie an einer eigenen Tagung zum Thema Reproduktive Gerechtigkeit.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Forschungsprojekt «REFPER - Reproduktive Gesundheit. Perspektive geflüchteter Frauen» setzte sich mit der Sichtweise der Betroffenen auseinander.
- In der Tagung zur reproduktiven Gerechtigkeit im Fluchtkontext stellten sie die Erkenntnisse vor und brachten die Betroffenenperspektive in einen Dialog mit der Expertise aus der Praxis.
- Im Interview spricht Projektleiterin Milena Wegelin über das Forschungsprojekt, Versorgungslücken im Schweizer Asylwesen und mögliche Wege für Veränderungen.
Milena Wegelin, im Forschungsprojekt «Reproduktive Gesundheit. Die Perspektive geflüchteter Frauen» haben Sie die gesundheitliche Versorgung von geflüchteten Frauen und insbesondere deren Zugang zu reproduktiver Gesundheit untersucht. Weshalb?
Milena Wegelin: Das Forschungsprojekt sollte geflüchteten Frauen Raum geben, ihre Erfahrungen mit dem Zugang zur gesundheitlichen Versorgung zu teilen. Was benötigen sie, welche Hindernisse und Probleme gibt es? Ausgangspunkt war dabei die bereits in anderen Studien bestätigte Versorgungslücke im Zugang zu Beratung der Familienplanung und Finanzierung von Verhütungsmitteln. Diese Lücke stellt eine signifikante Beschränkung der reproduktiven Rechte dar. Wir haben die Perspektive von Frauen mit unterschiedlichem Aufenthaltsstatus erfasst. Sie berichteten über ihre Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung im Allgemeinen und mit Familienplanung und Verhütung im Besonderen, die sie seit ihrer Ankunft in der Schweiz gemacht haben.
Eindrücke von der Tagung zur reproduktiven Gesundheit im Juni 2024
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Milena Wegelin: Geflüchtete Frauen erleben in der ersten Zeit die Gesundheitsversorgung innerhalb der Asylstrukturen und sind zudem unterschiedlich lange in kollektiven Unterbringungsstrukturen platziert. Diese Phase kann Monate bis Jahre dauern. Sie hinterlässt Spuren und hat auch Auswirkungen auf den späteren Umgang mit dem Gesundheitssystem. Diese Lebenssituation ist also ein zentraler Aspekt. Er beeinflusst auch die Familienplanung.
Daher haben wir konzeptionell mit dem Ansatz der Reproduktiven Gerechtigkeit gearbeitet. Dieser verbindet reproduktive Gesundheit mit sozialer Gerechtigkeit. Er fragt nach den Möglichkeiten und Voraussetzungen, die Frauen im Bereich der Reproduktion überhaupt haben. Er bezieht damit die strukturellen Rahmenbedingungen, d.h. die Lebensrealitäten der Menschen mit ein. Der Ansatz basiert auf drei Rechten, die zentral sind, um frei über das eigene Leben und die eigene Familienplanung zu entscheiden: Erstens das Recht, keine Kinder zu bekommen. Zweitens das Recht, Kinder zu bekommen. Drittens das Recht, die eigenen Kinder in einer sicheren und gesunden Umgebung aufzuziehen.
Bei ihrem Projekt handelt es sich um ein partizipatives Forschungsprojekt. Sie haben nicht nur geflüchtete Frauen befragt, sondern gemeinsam mit geflüchteten Frauen geforscht. Warum war das in diesem Fall so wichtig?
Milena Wegelin: Es war eine forschungsethische Entscheidung. Es war mir wichtig, dass wir, wenn wir die Perspektive der geflüchteten Frauen erheben, diese auch in die Forschungsarbeit einbeziehen. Dass nicht nur über sie geforscht wird, sondern mit ihnen. Das partizipative Forschungsdesign hat sich schrittweise entwickelt. In einem ersten Schritt wurde die Dolmetscherin ins Projektteam aufgenommen. Danach kamen für die Analyse der qualitativen Interviewdaten sechs Co-Forschende hinzu, die Erfahrungswissen durch ihre eigene Flucht mitbrachten und heute teilweise in ihrer beruflichen Tätigkeit mit geflüchteten Frauen arbeiten. Die Co-Forschenden haben diesen Prozess begleitet und wir konnten die Datenanalyse auf ihrem Wissen breiter abstützen.
Im Forschungsbericht legen Sie dar, dass die Schweizer Gesundheitsversorgung in den Asylstrukturen die Frauengesundheit vernachlässigt. Inwiefern?
Milena Wegelin: Geflüchtete Frauen berichteten, dass ihre gesundheitlichen Probleme oft nur dann behandelt werden, wenn sie dies mit Nachdruck einforderten. Nicht alle haben aber die Kraft dafür. Und wenn doch, werden sie von Fachpersonen nicht immer ernst genommen. So kann es sein, dass geflüchtete Frauen von Anfang an kein Vertrauen in das Schweizer Gesundheitssystem haben. Auch später noch spüren sie den Stempel als «Geflüchtete».
Darüber hinaus ist es für viele geflüchtete Frauen schwierig, zu Informationen über Verhütungsmittel zu kommen und zu verstehen, welche Beratungsstellen es gibt. In den Asylstrukturen werden zwar Kondome kostenlos abgegeben, aber andere Verhütungsmittel werden nicht systematisch finanziert. Es hat einen Mangel an weiblichen Ansprechpersonen in den Camps und einer vertraulichen Umgebung. Das macht das Reden über sexuelle Gesundheit noch schwieriger.
Geflüchtete Frauen berichteten, dass ihre gesundheitlichen Probleme oft nur dann behandelt werden, wenn sie dies mit Nachdruck einforderten. Nicht alle haben aber die Kraft dafür.
Auch thematisieren Sie die ambivalente Situation, in der sich die geflüchteten Frauen bezüglich ihrer reproduktiven Entscheidungsfindung befinden. Können Sie das ausführen?
Milena Wegelin: Die Schweiz als Aufnahmeland wird von den geflüchteten Frauen mit Stabilität und Sicherheit in Verbindung gebracht. Gute Voraussetzungen also für die Gründung oder Erweiterung einer Familie. Es ist jedoch auch ein Schwebezustand, welcher durch einen unbestimmten Verfahrensausgang und die undefinierte Zeitdauer in kollektiven Unterbringungsstrukturen charakterisiert ist. Hinzu kommt, dass die schwierigen Lebensbedingungen in den Kollektivunterkünften mit Abhängigkeiten von Behörden, fehlender Privatsphäre, prekärer Infrastruktur, sozialer Marginalisierung und eben auch beschränktem Zugang zu Gesundheitsversorgung für Schwangere zusätzlich eine enorme Herausforderung ist.
Einige Studienteilnehmerinnen wiesen darauf hin, dass ein Leben in der Kollektivunterkunft kein sicheres und gesundes Umfeld für Kinder darstellt und Mutterschaft demnach erschwert. Sie führten aus, dass dies ein zentraler Grund ist, nicht schwanger werden zu wollen. Diese Bedingungen schränken die Familienplanung demnach massgeblich ein. Dies führte uns zur Erkenntnis, dass das Recht auf reproduktive und sexuelle Gesundheit nicht nur in Bezug auf den Zugang zu Gesundheitsversorgung gedacht werden muss, sondern auch in einem breiteren Sinne der strukturellen Rahmenbedingungen. Und demnach mit dem Ansatz der reproduktiven Gerechtigkeit gedacht werden sollte.
Geben Sie im Forschungsbericht Empfehlungen ab für eine Verbesserung der Situation?
Milena Wegelin: Nein, wir haben keine expliziten Empfehlungen verfasst, sondern wollten vor allem die Perspektive der Betroffenen aufnehmen und ihr den entsprechenden Raum geben. Es liessen sich sicher einige konkrete Empfehlungen ableiten, aber wir zeigen vor allem auf, dass es sich auch um tieferliegende, systemische Probleme handelt. Wir sind zurzeit in einer Phase des Projektes, in der wir mit den Ergebnissen in einen gelebten Austausch mit Fachpersonen und der breiteren Öffentlichkeit treten. Den Diskurs braucht es zuerst, um überhaupt Veränderungen anstossen zu können.
Einige Studienteilnehmerinnen wiesen darauf hin, dass ein Leben in der Kollektivunterkunft kein sicheres und gesundes Umfeld für Kinder darstellt und Mutterschaft demnach erschwert.
Wie sieht dieser Austausch mit Fachpersonen und der breiteren Öffentlichkeit konkret aus?
Milena Wegelin: Im Juni fand eine Tagung zu reproduktiver Gerechtigkeit im Fluchtkontext statt. Ziel der Tagung war es, die Perspektive der Betroffenen mit der Expertise aus der Praxis und den Erkenntnissen aus der Forschung in einen Dialog zu bringen und Personen miteinander zu vernetzen, die in diesem Themenbereich engagiert sind. Diese Tagung wurde also auch von den Co-Forschenden mitgetragen und mitorganisiert. Eine Erkenntnis war, dass ein niederschwelliger und vertrauensbildender Raum in den Unterbringungsstrukturen den geflüchteten Frauen die Möglichkeit gäbe, Anliegen zu ihrer Frauengesundheit anzubringen und Informationen einzuholen, sie so zu stärken und in den gesundheitlichen Belangen zu unterstützen.
Das Parlament stimmt in der Herbstsession 2024 über die Sicherheit in Bundesasylzentren ab. Wie schätzen Sie die Empfehlungen des Bundesrates für die Änderungen des Asylgesetzes in Bezug auf die reproduktive Gesundheit der Frauen ein? Hat dies konkret Einfluss auf ihre aktuelle Situation?
Milena Wegelin: Diese Vorlage soll gesetzliche Grundlagen schaffen für eine rechtmässige Anwendung von polizeilichem Zwang und polizeilichen Massnahmen wie die Durchsuchung oder die Festhaltung von asylsuchenden Personen während ihres Aufenthalts in Bundesasylzentren. Leider stehen die Sicherheits- und Schutzbedürfnisse der Asylsuchenden in diesem Gesetzesentwurf nicht im Mittelpunkt. Stattdessen werden diese als potenziell gefährlich dargestellt, wodurch derartige Sicherheits- und Polizeimassnahmen erforderlich gemacht oder gerechtfertigt werden. Bundesasylzentren müssen daher als semi-prisonale Räume verstanden werden. Die aktuelle Debatte zeigt, wie wichtig es ist, den breiteren institutionellen Kontext in Bezug auf die reproduktive Gesundheit zu berücksichtigen. Der von uns verwendete Ansatz der Reproduktiven Gerechtigkeit erweist sich hier als nützlicher Rahmen, um diese breitere Perspektive zu verstehen: die aktuelle Lebenssituation in den Bundesasylzentren schränkt die Möglichkeiten von Geflüchteten ein, freie Entscheidungen über ihre Reproduktion zu treffen.