Vision Gesundheitsversorgung Kanton Bern 2030

10.09.2020 Tagung des Instituts für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik

An der hochkarätig besetzten Tagung vom 9. September 2020 wurde aus den drei Perspektiven Politik, Krankenversicherung und Forschung diskutiert, wie sich das Gesundheitssystem in den nächsten 10 Jahren entwickeln soll. Das Publikum diskutierte angeregt mit den Referenten zu Herausforderungen, die sich in ihrem beruflichen Umfeld offenbaren.
 

Tagung Vision Gesundheitsversorgung Kanton Bern

Die Perspektive der Politik vertrat Pierre Alain Schnegg, Regierungspräsident des Kantons Bern. Reto Egloff, CEO der KPT Krankenkasse AG äusserte sich zur Perspektive der Krankenversicherer. Für die Perspektive der Forschung trat Prof. Dr. med. Nicolas Rodondi, Direktor des Instituts für Hausarztmedizin, ein.

 

«Ziel der Strategie ist, der Bevölkerung eine sichere, stabile Gesundheitsversorgung zu bieten.»

Regierungspräsident Pierre Alain Schnegg nahm Bezug auf die 2019 publizierte Gesundheitsstrategie des Kantons Bern und erläuterte deren zentralen Stossrichtungen. «Gesundheit geht alle etwas an», begann er seine Ausführungen. Sowohl gute Bildung als auch eine erfolgreiche Sozialpolitik wirkten sich positiv auf die Gesundheit der Bevölkerung aus. Gesundheit wiederum sei eine wichtige Voraussetzung für eine florierende Wirtschaft. Es erstaune also nicht, dass bei der Ausgestaltung des Gesundheitssystems alle mitreden wollten. «Ziel der Strategie ist, der Bevölkerung eine sichere, stabile Gesundheitsversorgung zu bieten», sagte Schnegg. Dazu müsse sich das Gesundheitssystem an den Bedürfnissen der Bevölkerung und nicht an der Leistungserbringung ausrichten. Derzeit sei dies noch nicht der Fall: Der Kanton Bern zahle für sein Gesundheitssystem mehr als alle anderen Kantone, weil Bedürfnisse geschaffen würden, die über die Grundversorgung hinaus gingen. «Nun ist es an der Zeit, diese Fehlanreize im System zu eliminieren.» Dabei spielen aus Sicht der Kantonsregierung «integrierte Versorgungsnetzwerke» eine zentrale Rolle. «Es müssen aber alle Akteure mitziehen und nicht die eigenen Pfründe verteidigen.»

«Bitte nehmen Sie die Steuerung an die Hand, wir Krankenversicherer helfen dabei gerne – tun nicht Sie es, tut es die Politik!»

Reto Egloff, CEO der KPT, plädierte in seinem Referat für Zusammenschlüsse von Kantonen in grössere Versorgungsregionen. Dabei soll zwar die Grundversorgung auch in Randregionen sichergestellt werden, die Spezialversorgung aber zentral organisiert sein. Kritisch zeigte sich Egloff zur Frage, ob die derzeit geplante Steuerung ausreichend an der Nachfrage ausgerichtet ist. Er monierte, dass die Gesundheitsversorgung auf die Produktion von abrechenbaren Leistungen getrimmt ist anstatt auf die Bedürfnisse der Bevölkerung. Um Über-, Unter- oder Fehlversorgung entgegenzuwirken, müsse man sich dringend Qualitätsfragen widmen: Diagnosequalität, Indikationsqualität und Leistungsqualität. Er schloss sein Referat mit einem Aufruf an die Leistungserbringer: «Bitte nehmen Sie die Steuerung an die Hand, wir Krankenversicherer helfen dabei gerne – tun nicht Sie es, tut es die Politik!»

«Ist die Bevölkerung besser informiert über regionale Schwankungen bei der Häufigkeit von Eingriffen, wird sie kritischer.»

Prof. Dr. med. Nicolas Rodondi sieht die grössten Herausforderungen für das Gesundheitssystem in der Zunahme der multimorbiden Patient*innen, in der Überversorgung und im Mangel an Hausärzt*innen bzw. Generalist*innen. Er zeigte auf, dass bis zu 20% der Gesundheitskosten auf Leistungen ohne zusätzlichen medizinischen Nutzen entfallen. Dabei wies auch er auf regionale Schwankungen in der Überversorgung hin und bestätigte die Aussage von Pierre Alain Schnegg, dass die Leistungserbringer im Kanton Bern gewisse Eingriffe überdurchschnittlich oft durchführen. Um dieser Überversorgung entgegenzuwirken, käme den Grundversorgern eine Schlüsselrolle zu. Die Hausarztmedizin müsse dringend gestärkt werden. Dabei sei auf interprofessionelle Zusammenarbeit Wert zu legen, welche bereits in der Ausbildung der Fachkräfte thematisiert werden muss. Zudem könne mehr Transparenz der Überversorgung entgegenwirken: «Ist die Bevölkerung besser informiert über regionale Schwankungen bei der Häufigkeit von Eingriffen, wird sie kritischer.» Ausserdem können Vergütungsmodelle, welche die Zweckmässigkeit und Wirksamkeit von Leistungen berücksichtigen der Überversorgung entgegenwirken.

Die anschliessende, angeregte Podiumsdiskussion hat unter anderem fehlende Daten bei gesundheitspolitischen Entscheidungen und die Wirkung von Qualitäts- und Kosteninformationen auf Ärzt*innen und Patient*innen thematisiert. Eine zeitnahe Kommunikation von Kosten- und Qualitätsdaten kann nicht nur bessere Regulierungen ermöglichen, sondern die Leistungserbringer auch dazu bewegen weniger Leistungen mit zweifelhaftem Nutzen zu erbringen. Die Podiumsteilnehmer haben aber auch betont, dass allen Beteiligten klar sein muss, was das Ziel von Transparenz ist und welchen Nutzen sie haben soll.

Rubrik: Forschung