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Ist die Abschaffung von Zwang in der Psychiatrie überhaupt möglich?
09.12.2024 Im Interview spricht Prof. Dr. Dirk Richter über sein neues Buch «Coercion and Violence in Mental Health Settings», das die Themen Zwang und Gewalt in der Psychiatrie aus Betroffenen- und Fachperspektive systematisch beleuchtet. Richter erklärt, warum Zwangsmassnahmen häufig mehr schaden als nutzen, beschreibt alternative Ansätze und zeigt auf, wie verstrickt die Gesellschaft in diesem Dilemma ist.
Das Wichtigste in Kürze
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Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Zwang in der Psychiatrie oft mehr schadet als er nützt.
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Ambulante Alternativen zu den stationären Angeboten fehlen in der Schweiz weitgehend.
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Gesellschaftliche Dilemmata erschweren die Abschaffung von Zwang in der Psychiatrie.
Dirk Richter, das Buch «Coercion and Violence in Mental Health Setting» erscheint Ende Dezember 2024 in einer neuen Ausgabe. Was unterscheidet das neue Buch von der ersten Ausgabe?
Zwei Punkte sind neu. Erstens haben wir das Thema Zwang in der Psychiatrie systematisch aufgenommen. In der ersten Auflage von 2006 lag der Schwerpunkt auf Gewalt gegen Mitarbeitende, mit wenig Fokus auf die Rolle des Zwangs und die Gewalt, die daraus erwachsen kann. Zweitens wird nun in fast allen Kapiteln die Perspektive der Betroffenen abgebildet. Betroffene sind nicht nur Co-Autor*innen, sondern eine betroffene Person ist auch Co-Herausgeber. Diese Entwicklung, die Betroffenenperspektive stärker zu integrieren, war damals noch nicht so etabliert.
Dirk Richter: Zur Person
Prof. Dr. Dirk Richter ist Soziologe und Pfegefachmann mit Erfahrung in der psychiatrischen Versorgung. An der BFH leitet er das Innovationsfeld Psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung und forscht zum Thema psychiatrische Versorgung.
Wann hat dieser Wandel stattgefunden?
Die Diskussion um Zwang in der Psychiatrie begann Mitte der 1990er-Jahre. Davor wurde Zwang weitgehend als zwar meist unliebsamer, aber notwendiger Bestandteil der Arbeit akzeptiert; das weiss ich aus eigener Erfahrung in der Pflege. Man hat es so vor sich gerechtfertigt und auch nicht hinterfragt, ob es sinnvoll ist oder welche Folgen diese Behandlungen haben könnten. Erst seit den 2010er-Jahren wird das Thema auch international systematisch erforscht, insbesondere im Hinblick auf die Erfahrungen und Perspektiven der Betroffenen.
Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in der Schweiz ein, wenn es um Zwang in der Psychiatrie geht?
Die Einführung des neuen Kinder- und Erwachsenenschutzrechts 2013 war mit der Hoffnung verbunden, Zwangsmassnahmen zu reduzieren, doch das hat sich nicht bewahrheitet. Tatsächlich ist die Zahl der Zwangsmassnahmen, wie Fürsorgerische Unterbringungen und freiheitsbeschränkende Massnahmen in der Behandlung, gestiegen. Im internationalen Vergleich steht die Schweiz relativ schlecht da und setzt häufig Zwang ein. Das ist aus meiner Sicht umso besorgniserregender, da Zwang überwiegend nicht mit dem Wohl der Patient*innen gerechtfertigt werden kann und die Massnahmen oft mehr schaden, als sie nützen. Das ist empirisch belegt.
Hohe Rate an Zwangseinweisungen in der Schweiz
Laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium (Obsan) wurden im Jahr 2022 in der Schweiz 18'367 Erwachsene ohne ihre Zustimmung in psychiatrische Kliniken eingewiesen. Dies entspricht mehr als einem Viertel aller Patient*innen in der Psychiatrie.
Zwangseinweisungen – sogenannte fürsorgerische Unterbringungen (FU) – erfolgen, wenn eine Person unter einer psychischen Erkrankung leidet und eine adäquate Versorgung auf freiwilliger Basis nicht möglich ist. Voraussetzungen sind eine akute Gefährdung der betroffenen Person oder anderer Menschen. In den meisten Kantonen können sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch die Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eine FU anordnen. Eine durch einen Arzt veranlasste Unterbringung ist zunächst auf sechs Wochen beschränkt und muss dann von der KESB überprüft werden.
Im europäischen Vergleich rangiert die Schweiz bei der Häufigkeit solcher Zwangseinweisungen laut einem Bericht des Bundesamts für Gesundheit (BAG) aus dem Jahr 2021 im Spitzenfeld.
Woran liegt diese Zunahme an Zwangsmassnahmen trotz vermehrter Sensibilisierung?
Ein wichtiges Konzept ist hier die sogenannte Pfadabhängigkeit. Wenn bestimmte soziale Praktiken – etwa der Umgang mit psychisch kranken Menschen, die sich oder andere gefährden – einmal etabliert sind, ist es sehr schwer, sie zu ändern. Würde man Zwang einfach abschaffen, stünden wir vor grossen Dilemmata: Was tun mit Menschen, die aggressiv werden oder suizidal sind? Erstere in reguläre Gefängnisse zu bringen, wäre keine Lösung, da dort die nötige psychosoziale Unterstützung fehlt. Lassen wir zweitere sich einfach das Leben nehmen? Das ist ethisch nicht vertretbar. Solche komplexen Problematiken verdeutlichen, warum Fürsorgerische Unterbringungen und freiheitsbeschränkende Massnahmen schwer zu ersetzen sind, selbst wenn sie schädlich sind. Wir haben in der Schweiz aktuell keine gesellschaftliche Alternative.
Was wären Alternativen zu Zwangsmassnahmen?
Ein Ansatz sind «Peer-Respite-Einrichtungen», wie es sie in Australien und den USA gibt. Das sind nicht-klinische Anlaufstellen für Menschen in Krisen, die von Peers mit eigenen Erfahrungen geleitet werden. Dort können Betroffene in einem geschützten Raum freiwillig für kurze Zeit Unterstützung erhalten, bevor es zur Eskalation kommt. In Deutschland existieren mit den Weglaufhäusern ähnliche Modelle, die ebenfalls auf Freiwilligkeit und Peer-Unterstützung setzen. In der Schweiz fehlt jedoch die sozialrechtliche Grundlage für die Finanzierung solcher nicht-medizinischen Angebote.
Warum fehlen diese Alternativen in der Schweiz?
In der Schweiz erhält man, wie in den meisten anderen westlichen Ländern, ohne offizielle Diagnose keine Unterstützung. Das schreckt viele ab, die nicht als psychisch krank stigmatisiert werden möchten, aber dennoch Hilfe benötigen. Diese Diagnose-Abhängigkeit ist eine Hürde, die Alternativen erschwert. Ein weiteres Dilemma.
Was macht nicht-medizinische Angebote attraktiver als klassische Kliniken?
Menschen mit suizidalen Gedanken fürchten in Kliniken oft die Fürsorgerische Unterbringung und die damit verbundenen Zwangsmassnahmen, deren Ende und Umfang für sie unklar ist. In einer Peer-geführten Umgebung ohne Zwang fällt es ihnen leichter, sich offen mitzuteilen und Hilfe anzunehmen.
«Eine medizinische Massnahme muss per Definition dem Wohl der Person dienen, und Untersuchungen zeigen, dass Zwang häufig nicht als hilfreich empfunden wird.»
Wenn wir nun weiterdenken und uns eine Psychiatrie ohne Zwang vorstellen. Was passiert mit psychisch kranken Menschen, die sich aggressiv verhalten?
Auch das ist ein grosses Dilemma. Menschen in psychotischen Krisen beispielsweise, die aggressiv werden, handeln nicht aus Böswilligkeit. Es sind Menschen in einer Notsituation. Trotzdem hat die Gesellschaft das Recht, sich vor Gewalt zu schützen. Gegenwärtig bringt die Polizei solche Menschen meist in psychiatrische Einrichtungen. Ohne Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie wäre jedoch unklar, wie diese Fälle zu handhaben wären. Die Forensik in der Psychiatrie, welche aktuell psychisch kranke Straftäter behandelt, würde dann nur noch freiwillige Patienten behandeln, während alle anderen ins Gefängnis gingen – Einrichtungen, die nicht für den Umgang mit psychischen Krisen ausgelegt sind. Eine solche Verschiebung würde gravierende strukturelle und finanzielle Anpassungen im Justiz- und Gesundheitssystem erfordern.
Würde das Problem von Zwang so nicht einfach verlagert?
Ja, der Zwang würde verlagert. Ich lehne Zwang in der Psychiatrie ab, weil er medizinisch nicht zu rechtfertigen ist. Eine medizinische Massnahme muss per Definition dem Wohl der Person dienen, und Untersuchungen zeigen, dass Zwang häufig nicht als hilfreich empfunden wird. Betroffene erleben sie zumeist als strafend und potenziell traumatisierend. Im Justizsystem dagegen ist Zwang zur Gefahrenabwehr gedacht. Die Legitimation ist eine andere. Gleichzeitig fordern Betroffene immer wieder, dass sie gleichbehandelt werden möchten wie Menschen ohne psychische Probleme. Die Konsequenz ist, dass sie die gleichen Konsequenzen erfahren, wie alle anderen auch. Es sollte keine Sonderrechte geben. Das Ziel sollte aber sein, dass es gar nicht erst so weit kommt.
«Weniger stationäre Behandlung heisst weniger Zwangsmassnahmenrisiko.»
Wie könnte man Menschen, die psychisch erkrankt sind und deshalb eine Straftat begehen, vorher abfangen?
Wir wissen, dass ambulante Angebote wie Wohnbegleitung und Home Treatment viele Krisen präventiv abfangen und stationäre Aufenthalte vermeiden können. Weniger stationäre Behandlung heisst weniger Zwangsmassnahmenrisiko. Die ambulante Begleitung und aufsuchende Behandlung in der Schweiz ist jedoch begrenzt und wird, wie im Fall von Home Treatment, in Projekten umgesetzt. Es ist entscheidend, dass diese Projekte finanziell gesichert und flächendeckend werden.
Könnte ein Ausbau ambulanter Versorgungstrukturen den Zwang verringern?
Ja, aber es braucht eine Umstrukturierung des Versorgungssystems. Noch bringt ein Klinikbett mehr Geld ein als ambulante Versorgung. Vieles steht und fällt mit der Finanzierung. Die Annahme der Abstimmungsvorlage «Einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen im Bereich der Akutversorgung» (EFAS) ist ein Schritt in die richtige Richtung und wird vieles verbessern. Aber nun müssen die Projekte erst mal aufgebaut werden. Ein wichtiges Mittel wäre auch der flächendeckende Einsatz von Patientenverfügungen. Durch eine Patientenverfügung können sich Betroffene im Vorfeld zu extremen Situationen äussern und festlegen, wie sie in Krisen behandelt werden möchten. Das kann bei der Planung von Zwangsmassnahmen Klarheit schaffen und die Behandlung stärker an den Wünschen der Betroffenen ausrichten.
«Ich denke, Zwang wird uns leider noch länger begleiten. Die Abschaffung würde viele Dilemmata schaffen.»
Peer-Arbeit bei der ambulanten Versorgung ist wertvoll für die Betroffenen. Inwiefern ist der Einbezug von Peers in der Forschung von Nutzen?
In der Forschung bieten Peers, also Personen mit eigener Krisenerfahrung, eine besondere Glaubwürdigkeit, die man mit «Street Credibility» umschreiben kann. Diese Vertrauensbasis ermöglicht oft tiefere Einsichten in die Realität von Betroffenen, was die Relevanz der Forschung steigern kann. Peers sind Brückenbauer zwischen wissenschaftlicher Forschung und der Lebenswelt der Betroffenen und tragen dazu bei, praxisnahe Fragestellungen zu entwickeln.
Wie sehen Sie die Zukunft von Zwang in der Psychiatrie?
Ich denke, Zwang wird uns leider noch länger begleiten. Die Abschaffung würde viele Dilemmata schaffen, und es braucht vorher grundlegende Massnahmen wie den Ausbau und die angemessene Finanzierung ambulanter Versorgungsangebote. Die soziale Pfadabhängigkeit erschwert schnelle Veränderungen. Öffentlichkeit, Justiz, Politik und auch Teile der Psychiatrie sind überzeugt, dass Zwang notwendig ist. Trotzdem hoffe ich, dass wir langfristig Fortschritte machen und in kleinen Schritten weniger Zwang und Gewalt erleben werden.