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Aufsuchende Peer-Arbeit in der Psychiatrie: Wie weiter?

11.11.2024 Dr. Anna Hegedüs untersuchte in ihrem Forschungsprojekt APPeer die Chancen und Herausforderungen der Peer-Arbeit in der ambulanten psychiatrischen Pflege durch die Spitex. Diese Arbeit fördert die Genesung, benötigt jedoch eine klare Finanzierung und Schulung.

Das Wichtigste in Kürze

  • Aufsuchende ambulante psychiatrischen Peer-Arbeit ist in der Schweiz noch relativ neu. Hauptursache liegt in der Finanzierung. Verschiedene Spitex-Organisationen führen die aufsuchende psychiatrische Peer-Arbeit aktuell bei sich ein. 

  • Der zusätzliche Zugang zu den Klient*innen und die Entlastung der Pflegefachpersonen werden dabei als grosser Vorteil gewertet. 

  • Optimierungen ergeben sich, wenn das Erfahrungswissen der Peers auch auf der Organisationsebene verankert wird.

Peer-Arbeit in der Psychiatrie: Was heisst das?

Anna Hegedüs: Peers sind Gleichbetroffene. Sie haben selbst eine psychische Krankheit oder Krise erlebt und bewältigt und können mit ihrem Erfahrungswissen anderen Betroffenen helfen. Peer-Arbeit im psychiatrischen Setting hat nachweislich positive Effekte. Sie fördert die Genesung, das Empowerment der Betroffenen und vermittelt Hoffnung und ist eine wertvolle Ergänzung zu traditionellen Behandlungsformen. 

Peer-Arbeit in der stationären Psychiatrie ist in der Schweiz mehrheitlich etabliert. Wie sieht es im ambulanten Bereich aus?

Die erste Peer-Arbeit im psychiatrischen Bereich wurde in der Schweiz im Jahr 2009 in einer psychiatrischen Klinik, also im stationären Bereich, eingeführt. Seither hat sich diese Art der Unterstützung kontinuierlich weiterentwickelt, und viele Peers sind inzwischen in verschiedenen Institutionen tätig. Dort übernehmen sie auch ambulante Aufgaben in Tageskliniken oder Ambulatorien, z. B. in der Leitung von Gruppenangeboten. Relativ neu in der Schweiz ist hingegen die aufsuchende ambulante psychiatrische Peer-Arbeit, wie sie derzeit in verschiedenen Spitex-Organisationen eingeführt wird. 

«Peer-Arbeit fördert die Genesung, das Empowerment der Betroffenen und vermittelt Hoffnung und ist eine wertvolle Ergänzung zu traditionellen Behandlungsformen.»

Dr. Anna Hegedüs
Dr. Anna Hegedüs Stiftung Lindenhof Tenure Track Position
Peer-Arbeit im ambulanten aufsuchenden Setting

Was hat dazu geführt, dass die aufsuchende Peer-Arbeit noch nicht lange besteht?

Dafür gibt es mehrere Gründe. Eine der Hauptursachen liegt in der Finanzierung. Während die Peer-Arbeit im stationären Bereich in bestehenden Budgets eingebettet ist oder im spitalambulanten Bereich über ambulante Leistungen abgerechnet werden kann, fehlt im Spitex-Bereich eine geregelte Finanzierung. Auch lässt sich Peer-Arbeit aufgrund der Strukturen in stationären Einrichtungen leichter integrieren. Die Peers sind dort in interdisziplinäre Teams eingebunden, wo ein enger Austausch mit anderen Mitarbeitenden möglich ist. Im ambulant-aufsuchenden Bereich ist dies schwieriger zu organisieren, weil die Peers hier oft allein unterwegs sind und sehr selbständig arbeiten. 

Eine der Organisationen, die in der Schweiz ambulant-aufsuchend Peer-Arbeit anbietet, ist die Spitex. Dieses Angebot haben Sie in Ihrem Forschungsprojekt APPeer untersucht…

Genau, drei Spitex-Organisationen haben die ambulant-aufsuchende Peer-Arbeit bereits unterschiedlich lange bei sich implementiert und bei unserem Projekt mitgemacht. Unterstützt wurden sie dabei vom Verein Förderprogramm und Sozialfonds für ambulante Peer-Begleitung mit seinem Projekt INGA, der sich für die Implementierung von Peer-Arbeit im ambulant-aufsuchenden Bereich stark macht. Mit unserem Forschungsprojekt APPeer untersuchen wir, wie aufsuchende Peer-Arbeit innerhalb von Spitex-Organisationen implementiert und umgesetzt wird, welche Herausforderungen es dabei gibt und welche Lösungsansätze zu deren Überwindung beitragen können. Auch möchten wir mit unserer Arbeit die Peer-Arbeit bei Betroffenen und Gesundheitsfachpersonen bekannter machen, sodass möglichst viele Organisationen – auch aus dem klinischen Bereich – Peers im aufsuchenden Bereich einsetzen können. 

Was sind die Hauptvorteile der aufsuchenden Peer-Arbeit in Spitex-Organisationen?  

Für die qualitativen Befragungen haben wir mit den Geschäftsführer*innen, den Pflegefachpersonen und den Peers der Spitex-Organisationen sowie mit INGA-Fachexpert*innen gesprochen. Der zusätzliche Zugang zu den Klient*innen auf der Beziehungsebene durch die Peer-Arbeit wurde als grosser Vorteil gewertet. Die Klient*innen fühlten sich verstanden, hoffnungsvoll und bestärkt durch den Austausch auf Augenhöhe. Die abwechselnden Besuche von Peers und Pflegefachpersonen empfinden  die Klient*innen als bereichernd für ihre Alltagsbewältigung. Für die Pflegefachpersonen leisten die Peers wichtige Entlastungsarbeit.    

Welche Herausforderungen gab es bei der Implementierung?  

Ein zentrales Hindernis war das fehlende Wissen über Recovery- und Peer-Arbeit bei vielen Mitarbeitenden. So gab es unterschiedliche Auffassungen über das Anforderungsprofil der Peers. Beispielsweise forderten Spitex-Mitarbeitende psychiatrisches Fachwissen, was aber nicht im Sinne des Recovery-Ansatzes ist. Dieses Wissen bringen die Pflegefachpersonen mit, während die Peers mit ihren eigenen Erfahrungen helfen können. Umfassende Schulungen könnten helfen, ein gemeinsames Verständnis darüber zu schaffen, was Peer-Arbeit ist oder eben nicht ist. 

«Die abwechselnden Besuche von Peers und Pflegefachpersonen empfinden die Klient*innen als bereichernd für ihre Alltagsbewältigung.»

Dr. Anna Hegedüs
Dr. Anna Hegedüs Stiftung Lindenhof Tenure Track Position

Welche weiteren Massnahmen könnten helfen, die Peer-Arbeit besser zu integrieren?

Die Implementierung der Peer-Arbeit könnte erfolgreicher sein, wenn sie als Teil einer gesamtheitlichen, recovery-orientierten Transformation der Organisation verstanden wird. Dies bedeutet, dass das Erfahrungswissen der Peers nicht nur auf der Ebene der Klient*innen genutzt wird, sondern in alle Ebenen der Organisationen eingebettet ist. So könnten Peers auch in der Beratung von Fachpersonen bei Fallbesprechungen oder bei der Entwicklung von Konzepten oder Veränderungsprozessen der Organisationen eine wertvolle Rolle spielen.

Wie wirkt sich die externe Unterstützung auf das Angebot aus?

Die externe Unterstützung durch INGA mit ihrem Netzwerk und ihrem Fachwissen wurde als sehr hilfreich angesehen. Sie konnten vor allem bei der Rekrutierung und der Supervision der Peers unterstützen und die Spitex entlasten. Hier kann eine Verbesserung erzielt werden, indem die externe Unterstützung stärker in die Organisation integriert wird und nicht losgelöst von der Spitex-Struktur stattfindet. So könnten die Supervisionen von INGA mit den Peers vor Ort und vielleicht auch gemeinsam mit Spitex-Mitarbeitenden durchgeführt werden. Gleichzeitig kann es den Peers, die meist in einem niedrigen Pensum arbeiten, den Austausch mit anderen Mitarbeiter*innen und somit die Teilhabe am Team erleichtern.  

«Die Implementierung der Peer-Arbeit könnte erfolgreicher sein, wenn sie als Teil einer gesamtheitlichen, recovery-orientierten Transformation der Organisation verstanden wird.»

Dr. Anna Hegedüs
Dr. Anna Hegedüs Stiftung Lindenhof Tenure Track Position

Welche weiteren Forschungsschritte wären aus Ihrer Sicht nun sinnvoll?

Die derzeitige Finanzierung der Peer-Arbeit ist unzureichend und nicht kostendeckend. Es braucht weitere Studien, die den Mehrwert der aufsuchenden Peer-Arbeit im psychiatrischen Setting aufzeigen. Dies würde die Verhandlungen mit Krankenversicherern oder Kantonen unterstützen und zu einer nachhaltigen und zufriedenstellenden Finanzierung beitragen.

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