Die Digitalisierung erfordert ständige Anpassung

21.05.2024 Digitale Medien sind das Thema der kürzlich fertiggestellten Dissertation von Caroline Pulver. Im Interview erklärt sie, weshalb diese in der Sozialen Arbeit häufig als Problem thematisiert werden, wieso Fachpersonen ihren Klient*innen hier stets einen Schritt voraus sein sollten und was dies für die Profession sowie die Aus- und Weiterbildung bedeutet.

  • Martin Alder studierte Philosophie, Politik- und Kommunikationswissenschaften. Er ist verantwortlich für die Sozialen Medien des Departements Soziale Arbeit und leitet die Redaktion des Wissenschaftsblogs «knoten & maschen».

Wie viele Stunden pro Tag verbringen Sie an einem Bildschirm? Und finden Sie das problematisch?

Caroline Pulver: Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen: mehr, als mir lieb ist. Die Arbeit an einer Hochschule ist doch eher bildschirmlastig. Sogar beim Dozieren läuft vieles über Präsentationen und digitale Tools. Problematisch finde ich aber vor allem die körperlichen Auswirkungen – zum Beispiel auf den Rücken.

Prof. Dr. Caroline Pulver, Dozentin
Prof. Dr. Caroline Pulver, Dozentin, promovierte vergangenes Jahr an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Sozialwissenschaften. Sie leitet die Praxisausbildung des Bachelor-Studiengangs Soziale Arbeit und unterrichtet unter anderem zu Digitalisierung/Mediatisierung in der Sozialen Arbeit.

In Ihrer Dissertation befassten Sie sich damit, wie Fachkräfte der Sozialen Arbeit Digitale Medien nutzen und welche Einstellungen sie dazu haben. Wie kamen Sie zu diesem Thema?

Bei der Ausarbeitung des Exposés im Jahr 2017 befasste ich mich beruflich gerade mit Onlineberatungen, was ein sehr spezifisches Thema ist. Ich wollte mich aber grundsätzlicher mit dem Thema Digitalisierung auseinandersetzen: Was bedeutet sie für die Praxis, was für die Fachperson A im einen Handlungsfeld und was für die Fachperson B in einem ganz anderen Bereich? So landete ich bei den Digitalen Medien – also zum Beispiel Social-Media-Apps, E-Mails oder die digitale Aktenerfassung. Durch diese Themenwahl konnte ich bereits selbstverständlich genutzte Medien untersuchen, aber auch die neusten technischen Entwicklungen miteinbeziehen.

Literatur

Wieso ist es wichtig, diese Thematik zu erforschen?

Meine Dissertation ist eher im Grundlagenbereich angesiedelt und vor allem für die Profession der Sozialen Arbeit relevant. Sie zielt indirekt auch auf die Frage, wie Fachpersonen ausgebildet werden müssen, damit sie Digitale Medien kompetent nutzen können, und welche professionellen Überlegungen sie im Umgang damit anstellen sollten. Diese Art der Kompetenzentwicklung hat einen grossen gesellschaftlichen Nutzen. Fachpersonen können diese Fähigkeit als Multiplikator*innen an die vulnerablen Gruppen weitergeben, mit denen sie arbeiten. Sie können den Bedarf und die Bedürfnisse ihrer Klient*­innen aufnehmen und diese im Umgang mit Digitalen Medien befähigen.

«So entsteht für die Fachpersonen auch ein gewisser Druck, da sie vergleichsweise weiter sein sollten, wenn sie ihre Klientel bei der Digitalisierung mitnehmen möchten.»

Caroline Pulver
Caroline Pulver Dozentin

Gibt es Handlungsfelder, die häufiger mit dem Thema Digitale Medien konfrontiert sind als andere?

Je nachdem mit wem eine Fachperson arbeitet, spielt die Digitalität allgemein eine andere Rolle. Verantwortliche in Handlungsfeldern, die beispielsweise mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, betrifft das Thema direkter als Fachpersonen in der Altersarbeit. 

Jedoch gibt es in allen Bereichen Personen, die eine Vorreiter*innen-Rolle übernehmen. Dies hat entsprechend meinen Ergebnissen mehr mit deren persönlichen Einstellungen zu tun und hängt nicht vom Handlungsfeld ab. Gerade bei technischen Neuerungen sind diese Personen für ihre Organisationen entscheidend, vor allem wenn seitens der Adressat*innen eines Handlungsfeldes Forderungen gestellt werden. Je nach vorhandenen Kompetenzen können die Organisationen besser darauf reagieren.

Hier wird es spannend, denn die Fachpersonen sind ja selbst auch von der digitalen Entwicklung betroffen. Für die Personen, mit denen sie arbeiten, stellt die digitale Transformation jedoch eine grössere Herausforderung dar, da sie hier zum Beispiel erneut Diskriminierungen erleben. So entsteht für die Fachpersonen auch ein gewisser Druck, da sie vergleichsweise weiter sein sollten, wenn sie ihre Klientel bei der Digitalisierung mitnehmen möchten.

Sie schreiben in Ihrer Dissertation, dass Fachpersonen die Gefahren und Probleme, die durch die Digitalen Medien für ihre Klient*innen entstehen, stark in den Vordergrund stellen. Woher kommt das?

Das hängt damit zusammen, dass sich die Soziale Arbeit als Profession mit sozialen Problemen befasst. Erst durch die Problematisierung der Digitalen Medien sind die Fachpersonen in der Lage, sich inhaltlich mit diesem Thema zu befassen, es in ihren Auftrag zu integrieren und in diesem Spannungsfeld zu handeln – also wenn beispielsweise Digitale Medien den Erziehungsauftrag in Sozialpädagogischen Institutionen beeinflussen oder wenn die gesellschaftliche Teilhabe von Klient*innen eingeschränkt wird, da diese über zu wenige Ressourcen für die dazu benötigten Digitalen Medien verfügen.

Von aussen – also von Seiten der Trägerschaften – definierte dies noch niemand als klare Aufgabe der Sozialen Arbeit. Dies muss sie selbst leisten, da hier auch die Zuständigkeit, zum Beispiel von Schulen und Eltern, noch nicht abschliessend geklärt ist.

«Erst durch die Problematisierung der Digitalen Medien sind die Fachpersonen in der Lage, sich inhaltlich mit diesem Thema zu befassen, es in ihren Auftrag zu integrieren und in diesem Spannungsfeld zu handeln.»

Caroline Pulver
Caroline Pulver Dozentin

Was sind konkret die häufigsten Problemen, die während Ihrer Untersuchungen genannt wurden?

Häufig genannt wurde, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden, wenn sie zu früh und zu oft mit falschen Inhalten wie Gewalt oder Sexualisierung konfrontiert werden. Auch zeigen sich bekannte Phänomene wie Mobbing plötzlich anders, da sie vermehrt in einer verdeckten Welt stattfinden, in der sich die Bezugs- und Fachpersonen mehrheitlich gar nicht bewegen.

Bei Erwachsenen spielt die Verfügbarkeit der Digitalen Medien eine grosse Rolle. Wenn man mittlerweile ein Laptop oder ein Smartphone braucht, um einen Termin beim Passbüro zu vereinbaren, führt dies zu problematischen Ausschlussmechanismen. Diese können auch eintreten, wenn man sich zwar ein Gerät leisten kann, aber nicht über die Kompetenzen verfügt, um dieses richtig zu nutzen.

Gibt es auch Felder der Sozialen Arbeit, in denen Digitale Medien eher als Lösung betrachtet werden?

Selbstverständlich sahen die meisten Fachpersonen, dass in den Digitalen Medien auch Chancen liegen. Dass Jugendliche sich zum Beispiel über Digitale Medien vernetzen und auf ihnen kreativ tätig sind. Viele Teams überlegen sich, wie sie mittels Digitaler Medien ihre Zielgruppen besser erreichen und ihnen mehr Ressourcen zur Verfügung stellen können. 

Diese Lösungsansätze stehen aber immer ein wenig im Konflikt mit den Bedenken, die sich aus der ursprünglich Problematisierung ergeben. Wenn in der Praxis jedoch klarer wäre, was die Dos und Don’ts in ihrem Feld wären, könnten sich die Fachpersonen vielmehr auf die Chancen und Lösungen konzentrieren und müssten nicht Angst haben, Fehler zu machen. Das beginnt schon bei der Frage, ob man einen Messenger-Dienst nutzen darf und wenn ja, welcher zum Beispiel die Vorgaben im Bereich Datensicherheit erfüllt.

«Wenn in der Praxis jedoch klarer wäre, was die Dos und Don’ts in ihrem Feld wären, könnten sich die Fachpersonen vielmehr auf die Chancen und Lösungen konzentrieren und müssten nicht Angst haben, Fehler zu machen.»

Caroline Pulver
Caroline Pulver Dozentin

In Ihrer Dissertation kommen Sie zum Schluss, dass ein umfassendes Konzept über den Umgang mit Digitalen Medien noch fehlt. 

Mittlerweile gibt es von verschiedenen Berufsverbänden konzeptionelle Ansätze, gerade wenn man über die Landesgrenzen hinausschaut. Die Soziale Arbeit muss aufgrund der Gesetzeslage aber auf nationaler oder gar kommunaler Ebene betrachtet werden. Damit diese eher allgemeinen Konzepte bei den Praxispersonen im Berufsalltag ankommen, müssen sie auf das jeweilige Handlungsfeld heruntergebrochen werden. Dazu gehört auch die Kompetenzentwicklung in der Aus- und Weiterbildung und die Frage, wer dazu die geeigneten Akteur*innen wären. Dies ist eine eher knifflige Detailarbeit und schwer zu koordinieren. 

Aber eben: Sehr häufig wird über das Thema auf einer übergeordneten Meta-Ebene gesprochen. Dabei liegen die Probleme in der Praxis teilweise schon bei der Frage «Wo lade ich was wie herunter?». Und hier interessiert mich doch sehr, wie wir diese beiden Ebenen zusammenbringen können.

Dienstleistungsangebot

Das Institut Fachdidaktik, Professionsentwicklung und Digitalisierung bietet diverse massgeschneiderte Angebote im Bereich Digital Skills an – zum Beispiel zur Inklusion und Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Beeinträchtigungen oder zu verschiedenen Trainings mittels Virtual Reality.

Interessierte melden sich bei: 
Prof. Dr. André Zdunek, Institutsleiter

Auch wenn der Umgang mit Digitalen Medien noch nicht überall gefestigt ist: Die Digitalisierung hat die Soziale Arbeit längst erreicht. Welche Entwicklungschancen erkennen Sie darin?

Die Geschwindigkeit des digitalen Fortschritts zeigt, dass immer wieder neue Notwendigkeiten entstehen, sich anzupassen. Kaum habe ich meine Dissertation zu Digitalen Medien veröffentlicht, wird bereits die Frage zur künstlichen Intelligenz in der Sozialen Arbeit diskutiert. Damit kommen nochmals ganz andere Themen hinzu, die ich nicht untersucht habe, die für die Praxis aber genauso wichtig sind. Daher werden Fachpersonen gebraucht, die diese Anpassungen immer wieder aufs Neue erbringen können.

Es bestehen bereits spannende Modelle für professionelle Handlungs- und Reflexionsprozesse in der Praxis, die eine solche Anpassungsleistung ermöglichen. Dort müssten die Fragen der Digitalisierung noch selbstverständlicher mitgedacht werden, was wiederum digitale Kompetenzen benötigt. Das Ziel der Entwicklung ist somit kein Endzustand, sondern die ständige Anpassungsfähigkeit an neue Begebenheiten. Es ist unsere Aufgabe als Aus- und Weiterbildungsort, diese Basisfähigkeit auf ein so hohes Niveau zu bringen, dass dies den Fachpersonen im Feld möglich ist.

Erstabdruck des Artikels im Fachmagazin «impuls»