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«Wenn die Schweiz nicht aufpasst, wird sie in den digitalen Bereichen zum Spielball mächtiger Firmen und Staaten»
14.06.2024 Die Schweiz hat in Sachen digitaler Souveränität Handlungsbedarf. Dies zeigt eine Studie von Matthias Stürmer, Leiter des Instituts Public Sector Transformation, zuhanden des Bundes.
Das Wichtigste in Kürze
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Die Schweiz hat gemäss einer BFH-Studie zuhanden des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA in Sachen digitaler Souveränität Nachholbedarf.
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13 Massnahmenvorschläge zielen darauf ab, die grossen Abhängigkeiten von ausländischen Konzernen zu reduzieren.
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Dabei stehen unter anderem die Benutzerfreundlichkeit, Sicherheit und Zuverlässigkeit sowie die Preisstruktur im Fokus.
Souverän zu sein, ist uns Schweizer*innen sehr wichtig. Wie steht es um die digitale Souveränität unseres Landes?
Leider nicht so gut. Wir sind in vieler Hinsicht abhängig vom Ausland: Smartphones, Laptops, Daten in der Cloud, Office-Anwendungen, ChatGPT und andere KI-Tools etc. kommen praktisch alle aus Amerika oder Asien.
Ist das denn schlimm?
Natürlich macht es keinen Sinn, alles selbst in der Schweiz herstellen zu wollen, schliesslich leben wir in einer vernetzten Gesellschaft. Und bei digitaler Souveränität geht es auch nicht um Abschottung oder Autarkie, sondern um Unabhängigkeit und Eigenständigkeit in der digitalen Zukunft. Und diese könnten wir in der Schweiz relativ einfach verbessern, wenn wir denn wollten.
Ständerätin Heidi Z’graggen schreibt in ihrem Postulat, dass es zur «digitalen Souveränität» von Staaten keine einheitliche Definition gebe. Was muss ich mir unter «digitaler Souveränität» vorstellen?
Dieser Begriff wird in der Tat unterschiedlich verstanden. In meiner Studie für das EDA habe ich mich an der Definition orientiert, die in Deutschland am Digital-Gipfel 2018 festgelegt wurde: Digitale Souveränität verlangt die vollständige Kontrolle der eigenen Daten und die Möglichkeit Informatik-Systeme eigenständig anpassen zu können. Ich finde das ein konkretes, praxisnahes Begriffsverständnis aus technologischer Perspektive, denn dies ist auch die Ausrichtung meiner Studie.
BFH-Expertise für den Bund: so entstand die Studie
Wie ist der Auftrag für diese Studie zu Ihnen gekommen?
Ich befasse mich schon lange mit digitalpolitischen Themen und den technologischen Herausforderungen der Digitalisierung. So kannte ich das Postulat von Ständerätin Heidi Z’graggen und fragte deshalb Vertreter*innen des EDA, ob sie Interesse an einer wissenschaftlichen Auslegeordnung und konkreten Empfehlungen hätten.
Wie frei ist man als Autor einer Studie für den Bund?
Ich war sehr frei in den Inhalten und Aussagen, das haben mir die Diplomat*innen des EDA zu spüren gegeben. Einzig musste ich für den Auftrag absprechen, was ungefähr der Umfang der Studie sein und welche Themen sie behandeln wird. Nun wird das EDA basierend auf meinem Bericht, weiteren Studien und eigenen Abklärungen den Postulatsbericht verfassen.
Wie geht es nach der Ablieferung der Studie weiter?
Jetzt geht es erst richtig los! Die Frage ist ja, ob und wenn ja welche Empfehlungen der Bundesrat aufnimmt und realisieren will. Parallel laufen sowieso diverse Digitalisierungsvorhaben wie DigiSanté, Mobilitätsdateninfrastrukturgesetzgebung (MODIG), die Open-Government-Data-Umsetzung oder das Swiss-Government-Cloud-Vorhaben. Da bietet die Studie zu digitaler Souveränität auch einiges an Input.
Die Studie wirft auch einen Blick über die Landesgrenzen hinaus. Wie stehen wir im Vergleich zu anderen Nationen?
In anderen Ländern wird das Thema «digitale Souveränität» viel intensiver diskutiert und auch in der Realität umgesetzt, denn andere Staaten haben das geopolitische Potenzial der Digitalisierung erkannt.
Können Sie uns Beispiele nennen?
Deutschland investiert beispielsweise zig Millionen in unabhängige Cloud-Lösungen, in Open Source Software und in ein ganzes Zentrum für digitale Souveränität mit über 60 Mitarbeitenden. Hingegen in der Schweiz haben wir oftmals noch das Gefühl, bloss die grossen Big-Tech-Firmen wie Microsoft, Google oder Amazon könnten gute Informatik-Dienste erbringen. Dabei kochen alle nur mit Wasser, denn auch Microsoft wurde gehackt oder Google-Rechenzentren waren offline, als es einen Brand gab.
Warum sollten wir Wert auf digitale Souveränität legen?
Beim Aufbau von digitalen Systemen schauen wir oft nur auf die funktionalen Anforderungen, auf die grossartigen Features, die ein Programm hat. Jedoch sind gerade die nicht-funktionalen Eigenschaften wie Benutzerfreundlichkeit, Sicherheit oder Zuverlässigkeit wichtige Faktoren, die den Erfolg oder Misserfolg eines Digitalisierungsprojekts bestimmen.
Und in diese Kategorie fällt auch digitale Souveränität?
Ja, die Freiheit, einen Anbieter zu wechseln oder ein System eigenständig weiterentwickeln zu können. Das ist beim Kauf eines IT-Systems nicht im Vordergrund, aber umso wichtiger, wenn es Probleme gibt mit dem Hersteller. Firmen wie Microsoft oder SAP können heute praktisch beliebig die Preise bestimmen – wir sind alle so abhängig von ihren Produkten, dass wir gar nicht anders können als mehr zu bezahlen. Aber das ist komplett selbstverschuldet: Hätten wir früher auf digitale Souveränität geachtet, wären wir nicht in so eine Anbieterabhängigkeit gerasselt.
Die Studie umfasst 13 Massnahmenvorschläge. Was sollten Bundesrat und Parlament aus Ihrer Sicht dringend anpacken?
Alle beschriebenen 13 Massnahmen, denn sie sind alle nicht sehr schwierig umzusetzen. Es gibt schon viele gute Ansätze in der Schweiz, auf denen wir aufbauen können. Konkret sollten wir einen Standard für digitale Souveränität festlegen, damit diese Anforderung künftig bei Informatikbeschaffungen einfach angewendet werden kann. Dann ist der Aufbau von technischen Fähigkeiten wichtig, damit die Menschen die IT-Systeme kompetent bedienen können.
Bei den Massnahmen nennen Sie auch die Nutzung von Open Source Software.
Genau. In der Förderung der staatlichen Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wie OpenStreetMap oder Open Source Communities liegt ein enormes Know-how-Potenzial. Generell liegt eine grosse Chance in der Nutzung und Weiterentwicklung von Open Source Software, wie auch die bald veröffentlichte Open Source Studie Schweiz 2024 zeigt.
Die 13 Massnahmenvorschläge aus dem Bericht
Massnahme 1
Ein eCH-Standard für «digitale Souveränität» soll geschaffen werden, um ein gemeinsames Begriffsverständnis und praktische Anwendungen wie IT-Beschaffungen und Zertifizierungen zu ermöglichen. Diese Massnahme würde einmalig CHF 500'000 kosten und könnte von DTI und Verein eCH übernommen werden.
Massnahme 2
Der Aufbau von Know-how und Weiterbildungsmöglichkeiten im IT-Bereich soll die technischen Fähigkeiten und das IT-Know-how in der Verwaltung und Bevölkerung erhöhen. Dies würde wiederkehrende Kosten zwischen CHF 1 und 10 Millionen pro Jahr verursachen und könnte vom SBFI umgesetzt werden.
Massnahme 3
Eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Forschung und Zivilgesellschaft soll durch den regelmässigen Austausch und Kooperationen gefördert werden. Diese Massnahme, geschätzt auf CHF 1 Million pro Jahr, würde von DTI und BIT verantwortet.
Massnahme 4
Förderung von Open Source Software und Open Standards im öffentlichen Sektor soll die Herstellerabhängigkeit reduzieren und die digitale Souveränität stärken. Wiederkehrende Kosten von CHF 1 Million pro Jahr würden erwartet, zuständig wären DTI oder BIT.
Massnahme 5
Eine nationale Plattform für die Freigabe von Behörden-Anwendungen soll geschaffen werden, um einen zentralen Einstiegspunkt für Open Source Software zu bieten. Dies würde einmalig CHF 1 Million und jährlich CHF 200'000 kosten, verwaltet durch DTI oder BIT in Zusammenarbeit mit DVS.
Massnahme 6
Das Mobilitätsdateninfrastrukturgesetz (MODIG) soll den Datenaustausch im Verkehrssektor fördern und die Nutzung der physischen Infrastruktur optimieren. Dieses Gesetzgebungsprozess verursacht keine zusätzlichen Ausgaben und liegt in der Zuständigkeit des BAV.
Massnahme 7
Ein Gesetz für die Sekundärnutzung von Daten soll die Dateninteroperabilität fördern und die rechtliche Grundlage für die Datennutzung schaffen. Dies ist ein Gesetzgebungsprozess ohne zusätzliche Ausgaben, unter der Zuständigkeit des BJ.
Massnahme 8
Eine zentrale Plattform für Speicherung und Freigabe von Open Government Data (OGD) soll geschaffen werden, um den Datenzugang zu erleichtern. Dies würde einmalig CHF 1 Million und jährlich CHF 200'000 kosten, verantwortet durch BFS in Zusammenarbeit mit DVS.
Massnahme 9
Der Aufbau der Swiss Government Cloud basierend auf Open-Source-Technologien soll die digitale Souveränität der IT-Infrastruktur verbessern. Geschätzte Kosten betragen rund CHF 300 Millionen, umgesetzt durch BIT.
Massnahme 10
SaaS-Angebote für Schweizer Behörden sollen eingeführt werden, um die digitale Souveränität zu erhöhen und Abhängigkeiten von ausländischen IT-Anbietern zu reduzieren. Dies würde einmalig CHF 2 Millionen und jährlich CHF 500'000 kosten, verwaltet durch BIT.
Massnahme 11
Eine Cloud-Lösung für internationale Organisationen soll basierend auf der Swiss Government Cloud angeboten werden, um eine digital souveräne IT-Infrastruktur bereitzustellen. Die Kosten sind nicht abschätzbar, die Zuständigkeit liegt beim BIT.
Massnahme 12
Anpassung und Betrieb eigener KI-Modelle sollen die Abhängigkeit von externen Anbietern reduzieren und die digitale Souveränität stärken. Dies würde einmalig CHF 2 Millionen und jährlich CHF 500'000 kosten, verantwortet durch BIT oder BFS.
Massnahme 13
Nutzung nationaler KI-Infrastruktur für Open Source KI-Modelle soll durch den neuen Supercomputer «Alps» gefördert werden, um die digitale Souveränität zu erhöhen. Die Zuständigkeit liegt bei ETH Zürich und ETH Lausanne, wobei keine genauen Kosten angegeben werden können.
Und wie sieht es mit Cloud-Lösungen und der künstlichen Intelligenz aus?
Auch die durch das Bundesamt für Informatik und Telekommunikation (BIT) geplante Swiss Government Cloud macht Sinn, solange sie auf digital souveränen Technologien basiert. Und last but not least natürlich der Bereich künstliche Intelligenz, bei dem die Schweiz mit dem Swiss National Supercomputing Centre (CSCS) in Lugano eine hervorragende Position hat.
Welche Vorteile hat die Gesellschaft, wenn der Staat die vorgeschlagenen Massnahmen umsetzt?
Es geht darum, die grossen Abhängigkeiten von ausländischen Konzernen zu reduzieren, um wieder ein Mindestmass an Eigenständigkeit der digitalen Infrastruktur zu erreichen. Letztlich ist der Hauptnutzen eine resiliente, digitale Infrastruktur.
Was meinen Sie damit?
Die Welt ist aktuell und wohl leider auch in Zukunft voller Konflikte. Die Zusammenarbeit mit Ländern wie Russland, die noch vor kurzem kein Problem darstellten, ist heute undenkbar. Was passiert mit China oder den USA, wenn dort die politische Situation kippt? Heute sind wir komplett abhängig von Firmen dieser Länder – praktisch die gesamte Bundesverwaltung könnte geschlossen werden, wenn die Office-Produkte in den Microsoft Rechenzentren nicht mehr laufen täten.
Ist in einer globalisierten und vernetzten Welt ein nationales Denken in der Digitalisierung gerechtfertigt?
In den Anfängen des World Wide Webs in den 90ern und den Nuller-Jahren war klar, dass das Internet eine geniale Möglichkeit zur Vernetzung der Menschen darstellt, Quelle von Wissen und Bildung bedeutet sowie Meinungsfreiheit und Demokratie neu gelebt werden kann.
Je mehr jedoch Cloud-Services, Social Media und Smartphones sich in der weltweiten Bevölkerung verbreiteten, umso stärker wuchs auch die Marktmacht der Informatikkonzerne. Heute mit dem KI-Boom haben Apple, Microsoft und NVIDIA eine Marktkapitalisierung von je über 3000 Milliarden US-Dollar – zusammen mehr als doppelt so viel wie die jährliche Wirtschaftsleistung von ganz Deutschland (Bruttoinlandprodukt von rund 4500 Milliarden US-Dollar). Wenn die Schweiz nicht aufpasst, wird sie in den digitalen Bereichen zum Spielball der mächtigen Firmen und Staaten.