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«Ein Mosaikstein für mehr Autonomie älterer Menschen»
06.11.2024 Der Bundesrat will selbständiges Wohnen älterer Menschen fördern. Unterstützungsleistungen sollen im Alltag über Ergänzungsleistungen finanziert werden. Alterssoziologe Riccardo Pardini ordnet die Vorlage ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Rentner*innen erhalten bisher zu Hause nur pflegerische Leistungen vergütet.
- Neu soll Rentner*innen, die noch zu Hause leben und Ergänzungsleistungen beziehen, auch die Unterstützung im Alltag finanziert werden.
- Der Alterssoziologe Riccardo Pardini begrüsst die Vorlage des Bundesrates.
- Er vermisst psychosoziale Massnahmen im Leistungskatalog.
Der Bundesrat will die Selbständigkeit von älteren Menschen in eigenen Wohnungen fördern. Dafür sollen die Ergänzungsleistungen ausgebaut werden. Warum ist die Massnahme notwendig?
Bis anhin ist die Unterstützung für ältere Menschen zu Hause auf medizinische und pflegerische Leistungen beschränkt, welche zum Beispiel eine Spitex erbringt. Es ist nicht vorgesehen, dass die Sozialversicherungen nicht-pflegerische Leistungen finanzieren, die Rentner*innen im Alltag entlasten und ihnen damit erleichtern, selbstbestimmt zu Hause zu wohnen.
Das bedeutet, dass der Wunsch, möglichst lange autonom in den eigenen vier Wänden leben zu können, nur für jene älteren Menschen realisierbar ist, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügen oder Personen aus dem sozialen Umfeld zur Seite haben, welche die entsprechenden Arbeiten erledigen. Mit seinem Vorschlag geht der Bundesrat auf diese Lücke in der Sozialversorgung ein.
Worum genau geht es in der Vorlage?
Rentner*innen, die eine Ergänzungsleistung beziehen, sollen dank Unterstützung im Alltag darin gestärkt werden, zu Hause leben zu können. Dafür wird im Rahmen der Ergänzungsleistungen das Angebot an anerkannten Leistungen erweitert. Es handelt sich um Leistungen wie Haushalthilfe, Mahlzeitendienst, Fahr- oder Begleitdienst, Notrufsystem, aber auch Massnahmen wie bauliche Anpassungen der Wohnung oder ein Mietzuschlag für eine altersgerechte beziehungsweise barrierefreie Wohnung.
Was bringt der Vorschlag des Bundesrates?
Zuerst einmal ist es zu begrüssen, dass die Politik auch auf nationaler Ebene den Handlungsbedarf erkannt hat. Ältere Personen verfügen in der Regel noch immer über genügend Ressourcen, um den Alltag zu gestalten und sich in die Gesellschaft einzubringen. Langsam schwindende Kräfte oder Gebrechen erfordern jedoch eine punktuelle Unterstützung wie zum Beispiel das Herumtragen schwerer Einkäufe, anstrengende Haushaltsarbeiten oder die Begleitung an eine Theatervorstellung.
Die vorgesehene Vergütung gewisser Unterstützungsleistungen wird die Selbstbestimmung älterer Menschen in ihrem Alltag grundsätzlich fördern. Diese Entwicklung liess sich bereits auf kommunaler Ebene feststellen. Die Städte Bern, Luzern und Zürich verfügen über Gutsprachesysteme, welche die Hilfe und Betreuung für Rentner*innen in finanziell prekären Lebenslagen vorsehen.
Wer wird – sofern das Parlament die Vorlage annimmt – davon profitieren? Nur Personen, die schon Ergänzungsleistungen haben, oder auch andere?
Es ist vorgesehen, dass nur Personen mit Ergänzungsleistungen die Unterstützung im Alltag finanziert erhalten. Menschen, die keine Ergänzungsleistungen beziehen, aber kaum über grössere finanzielle Mittel verfügen, bleiben leider ausgeschlossen. Sie werden wohl wie die meisten jener Rentner*innen, die heute solche Unterstützungsleistungen nicht bezahlen können, weiterhin darauf verzichten.
Darüber hinaus vermute ich, dass es auch betreuende Angehörige entlastet, welche Senor*innen mit Ergänzungsleistungen in ihrem Alltag unterstützen. Durch die Anpassung der Ergänzungsleistungen könnten sie bestimmte – teils belastende – Sorgetätigkeiten abgeben.
Gerade bei Personen, die nur wenig Pflege brauchen, ist eine spürbare Wirkung zu erwarten.
Wie viele Personen werden dank der Unterstützung zu Hause wohnen bleiben können?
Es ist schwierig, eine präzise Vorhersage zu machen. Die Finanzierung der Unterstützungsleistungen ist ein wichtiger Stein im Mosaik zur Förderung der Autonomie älterer Menschen. Dass im Alltag ein starkes Bedürfnis nach Unterstützung besteht, zeigt zum Beispiel die Einführung des Betreuungsgutsprachesystems in der Stadt Bern.
Bereits während der Pilotphase erfolgten mehr Anmeldungen und Kostengutsprachen als angenommen. Die vergüteten Leistungen erleichterten den Menschen das Leben zu Hause merklich und verbesserten ihre Lebensqualität. Gesetzlich verankerte Unterstützungsleistungen für den Alltag haben eine positive Wirkung auf die Situation von Rentner*innen in prekären Lebensverhältnissen.
Mit welchen Kosten ist für die Neuregelung zu rechnen?
Der Bund rechnet mit jährlichen Kosten von 300 bis 620 Millionen Franken. Gleichzeitig geht er davon aus, dass die Vorlage 280 Millionen Franken Einsparungen bringen wird, weil durch die Erweiterung der Ergänzungsleistungen weniger Menschen vorzeitig in ein Heim wechseln müssen. Die Herausforderung bei der Finanzierung ist, dass die Kantone die gesamten Kosten übernehmen müssen und der Bund keinen Beitrag leisten will.
Lassen sich mit der Vorlage die zunehmenden Engpässe in der Pflege und Betreuung von älteren Menschen beheben?
Gerade bei Personen, die nur wenig Pflege brauchen, aber in ein Heim eintreten müssen, weil sie sich Unterstützungsleistungen im Alltag nicht leisten können, ist eine spürbare Wirkung zu erwarten. Diese Menschen werden bestimmt länger zu Hause wohnen können und dadurch die Pflegedienste wie auch die Gesundheitskosten entlasten.
Über Riccardo Pardini
Riccardo Pardini ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Departement Soziale Arbeit der BFH. Er hat einen Master of Arts in Soziologie und Philosophie. Seine Schwerpunkte liegen bei der alternden Gesellschaft und der Altersarbeit im kommunalen Sozialraum. Wohnen im Alter, Betreuung im Alter, Alterspolitik und soziale Ungleichheit im Alter sind die wichtigsten Themenbereiche, denen er sich in seiner Forschungsarbeit widmet.
Sehen Sie weiteren Handlungsbedarf bei der Unterstützung älterer Menschen?
Wenn wir den vorgeschlagenen Leistungsbereich anschauen, der künftig über die Ergänzungsleistungen finanziert werden soll, dann fehlen darin Leistungen, die den sozialen Einbezug der Menschen fördern. Es geht zum Beispiel um gemeinsame Aktivitäten wie zusammen essen oder die Person auf einem Museumsbesuch begleiten. Es nützt wenig, wenn eine Person dank eines Mahlzeitendienstes ausgewogen ernährt und durch die Spitex gesundheitlich gut versorgt ist, wenn sie nur noch in ihrer Wohnung sitzt und nichts mehr unternimmt. Das wird ihr Wohlergehen negativ beeinflussen.
Die psychosozialen Aspekte haben für uns Menschen eine grosse Bedeutung, denn sie stärken ein selbstbestimmtes Leben und den Selbstwert einer Person. Es ist enorm wichtig, Zeit zusammen zu verbringen, einander Gesellschaft zu leisten. Damit beugen wir der zunehmenden Einsamkeit im Alter vor, wenn das soziale Umfeld tendenziell immer kleiner wird, und wir stützen die psychische Gesundheit der Menschen.