• Story

Frauen sind auch im Schweizer Gesundheitswesen oft benachteiligt

14.06.2024 Der biologische und soziale Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit ist offensichtlich – dennoch bestehen in der Schweiz Wissens- und Versorgungslücken. Ein Postulat forderte den Bundesrat auf, diese Lücken zu schliessen und Handlungsbedarf abzuklären. Am 15. Mai hat der Bundesrat nun seine Antwort veröffentlicht. Grundlage dafür war ein Bericht, den Expert*innen des IZFG und der BFH erarbeitet haben.

Das Wichtigste in Kürze

  • Frauen und Männer sind verschiedenen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Sie unterscheiden sich im Gesundheitsverhalten und sind anders von Krankheiten betroffen. 

  • Die medizinische Grundlagenforschung hat einen männlichen Bias, der sich auf das evidenzbasierte Wissen und damit auch auf die Gesundheitsversorgung und auf Massnahmen im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung auswirkt.

  • In der Öffentlichkeit und im Gesundheitswesen kommt es so zu Ungleichbehandlung von Gesundheitsproblemen.

  • Verschiedene politische Vorstösse der letzten Jahre haben dazu geführt, dass Frauengesundheit und Gendermedizin auf die Agenda gerückt sind und bereits erste Veränderungen in der Grundlagenforschung ausgelöst wurden.

Herzinfarkt, Demenz, Endometriose: Oft unentdeckt oder unterbehandelt

Die internationale Forschung zeigt, dass Frauen auch in Ländern mit hohem Einkommen oftmals eine schlechtere Gesundheitsversorgung erhalten als Männer. Biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern – zum Beispiel die Symptome bei einem Herzinfarkt – sind noch ungenügend untersucht und/oder werden in der Praxis mangelhaft einbezogen. Therapien, z. B. bei Krebserkrankungen basieren auf Forschungsdaten, die den männlichen Körper als Norm voraussetzen, und sie wirken deshalb bei Frauen nicht optimal. Zudem werden Frauen aufgrund von Geschlechterstereotypen anders wahrgenommen und adressiert, was zu einem ungleichem Zugang zu adäquater Versorgung führen kann. Bei weiblichen Patientinnen werden weniger Abklärungen gemacht, wodurch Herzinfarkte oder Demenzerkrankungen unterdiagnostiziert bleiben. Auch die Erkennung von Endometriose wird erschwert, da Menstruationsbeschwerden häufig nicht ernst genommen werden.

Die Gründe dafür sind komplex und liegen sowohl im Grundlagenwissen über Krankheit und Gesundheit als auch in den gesellschaftlichen und politischen Kontexten begründet, in denen Krankheiten entstehen, diagnostiziert, behandelt, oder als chronische Gesundheitsbeeinträchtigungen (mit)getragen werden. Die erhöhte Aufmerksamkeit für das Thema Gesundheit und Geschlecht ist demnach gerechtfertigt.

Politische Vorstösse bringen Bewegung ins Thema Gendergesundheit

Verschiedene politische Vorstösse der letzten Jahre haben dazu geführt, dass Frauengesundheit und Gendermedizin auf die Agenda gerückt sind und beispielsweise mit dem Nationalen Forschungsprogramm 83 «Gendermedizin und -gesundheit»  bereits erste Veränderungen in der Grundlagenforschung ausgelöst wurden. Zudem hat Nationalrätin Laurence Fehlmann Rielle 2019 das Postulat «Gesundheit der Frauen. Bessere Berücksichtigung ihrer Eigenheiten»  eingereicht. Dieses forderte den Bundesrat auf, folgende Fragen zu klären: Welche Massnahmen bestehen und welche sind anzustossen, um die Ungleichheiten in Forschung, Prävention und Pflege besser zu berücksichtigen? Im Rahmen des Projekts «Gesundheit der Frauen» erarbeitete die BFH als Partnerin zusammen mit dem Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) der Universität Bern  einen Bericht, der als Grundlage für die Beantwortung des Postulats dient. Der Bundesrat hat nun am 15. Mai den Grundlagenbericht und seine Antwort auf das Postulat publiziert:

Illustration zu Gendermedizin und Genderversorgung

Wissenschaftlicher Grundlagenbericht der Uni Bern und der BFH

Das IZFG und die BFH analysierten die Situation in der Schweiz mittels Literaturrecherche und Expert*inneninterviews. Auf der Basis der daraus gewonnenen Erkenntnisse definierten die Forscher*innen in Absprache mit dem Bundesamt für Gesundheit sechs Hauptproblembereiche: Forschung, Medikamentenentwicklung und Behandlung; Erkennung und Diagnostik; Prävention; Rehabilitation, Nachsorge und Langzeitversorgung; Aus-, Weiter- und Fortbildung der Gesundheitsfachpersonen; und die Arbeitswelt Gesundheitswesen. In einem zweiten Schritt erarbeitete das Team zusammen mit den relevanten Stakeholdern Vorschläge für die dringlichsten Massnahmen. Begleitet wurde es von einer Begleitgruppe des Bundes sowie von forschungsteaminternen Expertinnen aus dem Bereich Gender/Health. Der Forschungsbericht identifiziert Wissenslücken und Handlungsdefizite und formuliert Empfehlungen.

Sex, Gender, Gender Health/Medicine und Intersektionalität

Um Geschlechterunterschiede zu erforschen, ist – im Bereich Gesundheit – die Differenzierung zwischen «Sex» und «Gender» wichtig. Um eine geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung zu erreichen, muss sie intersektional sein und sich mit den Benachteiligungen aller Geschlechter befassen.

Sex

«Sex» bezeichnet in der englischsprachigen Geschlechterforschung das biologische Geschlecht. Dieses wird in der Forschung und im Gesundheitswesen meist als entweder männlich oder weiblich bezeichnet – wobei die vielfältigen weiteren Ausformungen von biologischem Geschlecht unterschlagen werden. Ein «Sex»-Unterschied zwischen Frauen und Männern ist zum Beispiel, dass Frauen Medikamente anders metabolisieren oder dass Frauen bei einem Myokardinfarkt oftmals andere Symptome aufweisen als Männer.

Gender

«Gender» bezeichnet das soziale Geschlecht. Es umfasst alle Aspekte von Geschlecht, welche kulturell und gesellschaftlich geformt sind, wie Geschlechterstereotype und -rollen oder geschlechterspezifische Arbeitsteilungen. Diese Stereotype, Rollen und sozialen Strukturen sind normalisiert, werden also als «normal» oder gar «natürlich» wahrgenommen. Dies erschwert es zu erkennen, wie sich gesellschaftliche Werte und Normen auf die Gesundheit und Gesundheitsversorgung von Frauen auswirken. Gleichzeitig – weil sie nur vermeintlich «natürlich» sind – müssen diese Geschlechternormen gesellschaftlich permanent neu verhandelt werden. Somit sind genderbasierte Ungleichheiten im Gesundheitswesen grundsätzlich veränderbar und Ungerechtigkeiten mit geeigneten Massnahmen reduzierbar.

Gender Health/Medicine

Laut einer ersten Einschätzung der Situation in der Schweiz wird in der Gesundheitspolitik und -versorgung dem sozialen Geschlecht als Einflussfaktor zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wo Geschlecht überhaupt berücksichtigt wird, wird es häufig auf rein biologische Faktoren reduziert. Wie sich auch in der Umsetzung des Projektes «Gesundheit der Frauen» verdeutlicht hat, ist die Berücksichtigung des sozialen Geschlechts (Gender) für eine geschlechtergerechten Gesundheitspolitik unerlässlich. Das bedeutet unter anderem, dass neben medizinischen und gesundheitswissenschaftlichen Perspektiven auch sozialwissenschaftliche, psychologische, philosophische oder ökonomische Perspektiven sowie Perspektiven aus den Forschungsfeldern Gender Studies und Public Health einzunehmen sind. Die Verwendung des Begriffs Gender Health/Medicine (statt lediglich Gendermedizin) unterstreicht den dringenden Bedarf nach einer fachlichen Breite.

Intersektionalität

Nachteile im Gesundheitssystem betreffen Frauen, trans/non-binäre Personen und Männer auf jeweils spezifische Weise. Eine geschlechtergerechte Gesundheitsförderung und -versorgung muss sich folglich grundsätzlich mit den Benachteiligungen aller Geschlechter befassen. Neben Geschlecht prägen weitere soziale Kategorien wie Alter, Migration und sozioökonomischer Status die Gesundheit und den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das Gesundheitssystem muss deshalb stets auch aus einer intersektionalen Perspektive betrachtet werden.

Handlungsbedarf und Massnahmen

Der Bundesrat priorisiert basierend darauf Massnahmen in allen sechs Bereichen. Diese umfassen die systematischere Berücksichtigung von geschlechterspezifischen Aspekten von der Prävention und Gesundheitsförderung über Diagnose und Behandlung bis hin zu Rehabilitation, Nachsorge und Langzeitversorgung. Die Grundlagen dafür werden in der Forschung gelegt: Neben dem bereits lancierten Nationalen Forschungsprogramm 83 wurden weitere Massnahmen beschlossen, um beispielsweise frauenspezifische Bedürfnisse in der Qualitätsentwicklung zu berücksichtigen und geschlechtersensible Faktoren in die relevanten Richtlinien und Gremien der klinischen Forschung einzubringen. Zudem soll auf nationaler Ebene evaluiert werden, ob in der Ausbildung von Gesundheitspersonal biologische und soziale Geschlechteraspekte genügend berücksichtigt werden. Schliesslich hat der Bundesrat auch das Thema sexuelle Belästigung und fehlende Gleichstellung im Gesundheitswesen aufgegriffen, das ebenfalls im Grundlagenbericht behandelt wird. Denn eine Verbesserung der geschlechtergerechten öffentlichen Gesundheit und Versorgung bedingt nicht nur eine gute Ausbildung des Gesundheitspersonals, sondern auch gesunde und faire Arbeitsbedingungen in der Praxis.

Mehr erfahren