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Gegen Einsamkeit − soziale Aktivitäten auf Rezept

12.09.2024 Wenn Ärzt*innen ihren Patient*innen gegen Einsamkeit soziale Aktivitäten verschreiben, dann ist im englischen Sprachraum die Rede von «Social Prescribing». Das Konzept wird insbesondere in Grossbritannien seit einigen Jahren flächendeckend umgesetzt. Wie interessant ist es für die Schweiz?

  • Dr. René Rüegg Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Thekla Breukert, Universität Luzern
kurze, prägnante Zusammenfassung, was auf dem Bild zu sehen ist und das Linkziel, falls Bild verlinkt ist.
Vor allem für junge Menschen könnte Social Prescribing vielversprechend sein.

Das Wichtigste in Kürze

  • In England spricht man von Social Prescribing, wenn Ärzt*innen soziale Aktivitäten verschreiben. 

  • Die in der Schweiz eher bekannte fachliche Sozialberatung in Arztpraxen ist nicht dasselbe.

  • Pilotprojekte in der Schweiz sollten u.a. klären, welche Patient*innen vom Angebot erreicht werden. 

Die Grundidee von Social Prescribing (zu Deutsch: soziale Verordnung) geht so: Patient*innen mit psychosozialen Belastungen werden in der medizinischen Grundversorgung identifiziert und anschliessend zu passenden gemeindenahen Angeboten weitervermittelt. Dafür leitet eine medizinische Fachkraft, in der Regel ein*e Hausarzt*ärztin, Patient*innen zu einem sogenannten Link Worker weiter. Die medizinische Fachkraft stellt dafür eine formale Verordnung aus oder stellt den Kontakt zu einer oder einem Link Worker direkt her.

Link Worker sind eine in Grossbritannien neu entstandene Berufsgruppe, die beratend arbeitet und als Vermittler*innen zwischen Gesundheits- und Sozialwesen angesiedelt sind. Link Worker finden im Gespräch mit den überwiesenen Patient*innen deren jeweilige Bedürfnisse und persönliche Interessen heraus und erstellen gemeinsam mit ihnen einen Massnahmenplan. Im Kern enthält dieser die Vermittlung zu verschiedenen Angeboten, zum Beispiel gemeinsames Gärtnern, Kochkurse oder ein spezialisiertes Beratungsangebot. In der Regel sind zum Beziehungsaufbau mehrere Termine nötig. So wird die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Betroffenen ein Angebot auch tatsächlich besuchen.

Der Vorteil von Social Prescribing könnte sein, dass es insbesondere auch junge Menschen erreicht.

Rüegg/Brunkert

Soziale Verordnungen in der Schweiz

Nach unserem Wissen gibt es in der Schweiz noch keine laufenden Projekte, die das Konzept umsetzen, obwohl Umfragen in Hausarztpraxen einen deutlichen Bedarf an psycho-sozialen Angeboten zeigen (Gerber et al., 2024). Viele Fachkräfte haben Einsamkeit als soziales Problem erkannt, das zunehmend auch junge Menschen betrifft. Vielen Hausärzt*innen fehlt es jedoch an einem Überblick über das Angebot an niederschwelligen sozialen Angeboten. 
In dieser Situation könnten Link Worker aktiv werden. Sie könnten sich im Auftrag von Ärzt*innen eine Übersicht über bestehende Angebote verschaffen und die Betroffenen in diese vermitteln. Zudem wären sie geeignet, das bestehende Kontaktnetz auszubauen und möglicherweise neue Freitzeitangebote zu anzuregen. Den Patient*innen würde der Zugang zu Angeboten des Gemein- und Sozialwesens erleichtert.

Klärungsbedarf für die Schweiz

Bisher wird das Konzept in so unterschiedlichen Ländern wie Grossbritannien, Kanada oder Österreich umgesetzt. Eine Erhebung in Wales (UK) hat gezeigt, dass die dortigen Link Worker bei ganz unterschiedlichen Organisationen des Sozial- oder Gesundheitswesens angestellt sind. Einige arbeiten direkt in Gesundheitseinrichtungen, andere in Gemeindeverwaltungen, wieder andere bei Leistungserbringern aus der Zivilgesellschaft. Auch zeigte die Erhebung, dass Link Working oftmals nur ein Teil eines vielfältigeren Stellenprofils ausmacht (Wallace et al., 2021).

Für die Schweiz wäre zu klären, wer die Rolle der Link Worker übernehmen könnte und wo sie organisatorisch anzusiedeln wäre. Zudem wäre der Ablauf des Verschreibungsprozesses zu konkretisieren, und man müsste klären, wer das Angebot finanziert. Antworten zu diesen Punkten blieb die zweite deutsche Online-Konferenz zum Thema Social Prescribing vom 15. Mai 2024 weitgehend schuldig. Es zeigte sich, dass aktuell im deutschen Sprachraum insbesondere die Begriffsverwendung diskutiert wird. Eine überzeugende deutsche Übersetzung für Social Prescribing und Link Worker wurde noch nicht gefunden. Das erstaunt nicht, kursieren doch selbst im Englischen allein für Link Worker über zehn Begriffe (Sandhu et al., 2022). 
Die Konferenz zeigte zudem, dass die Projekte in Deutschland und Österreich aktuell noch in der Pilotphase sind und erst evaluiert werden. Als besonders interessant für die Schweiz erachten wir die an der Konferenz lancierte Diskussion über Parallelen und Unterschiede zu anderen Konzepten, die dazu dienen, das Gesundheits- und das Sozialwesen besser zu verbinden. Besondere Bedeutung hat unserer Ansicht nach die Abgrenzung der Link Worker zur Sozialberatung in Arztpraxen.

Unterschiede zur Sozialberatung in Arztpraxen

An der Konferenz herrschte weitgehend Konsens, dass Social Prescribing nicht mit einer praxisinternen Sozialberatung gleichzusetzen sei. Im Unterschied zu den Link Worker sind Sozialarbeitende in Arztpraxen mit einer Vielzahl unterschiedlicher sozialer Anliegen konfrontiert. Die häufigsten Themen sind Finanzen, Sozialversicherungen, Erwerbsarbeit und Arbeitsrecht, Alltagsgestaltung, Wohnen, Migration, Beziehungen, Familie, betreuende Angehörige und Behördenkontakte (Rüegg et al., 2022). Beratungen zu diesen Themen benötigen eine solide Grundausbildung in Sozialer Arbeit, insbesondere gute Kenntnisse des Systems zur Sozialen Sicherheit, sowie einige Jahre Berufserfahrung. 

An Sozialarbeitende in Arztpraxen werden höhere fachliche Anforderungen gestellt als an Link Worker, so ein weiterer Konsens an der Konferenz. Letztere haben noch keine einheitliche Ausbildung und können in der Regel weniger umfassend beraten. Hingegen könnten Sozialarbeitende dank ihrer Kenntnisse des Sozial- und Gemeinwesens auch Social Prescribing umsetzen. Die Betonung liegt auf «könnten», denn Social Prescribing hat in der praxisinternen Sozialberatung bisher kaum Priorität. Ein Beispiel: Sozialarbeitende, die Arztpraxen angegliedert sind, sind bisher kaum für den Auf- und Ausbau eines Kontaktnetzes für Freizeitbeschäftigungen verantwortlich. Bei Bedarf hingegen können Sozialarbeitende in Arztpraxen durchaus soziale Aktivitäten vermitteln und dadurch die soziale Teilhabe der Patient*innen erhöhen (z. B. Zuchowski & McLennan 2023; Keefe et al.,2009).

 

Literaturhinweise und Quellen

Fazit

Konzeptionell ist das Prinzip des Social Prescribing von einer fachlichen Sozialberatung zu trennen. In der Praxis können sich beide Ansätze überschneiden, insbesondere wenn Sozialarbeitende in Arztpraxen auch zum Thema Einsamkeit und soziale Teilhabe beraten. Wenn Sozialarbeitende für Organisationen des Gesundheitswesens oder an der Schnittstelle zur Gesundheit ein Angebot entwickeln möchten, muss zusammen mit den relevanten Akteur*innen präzisiert werden, für welche Form der Beratung oder Begleitung ein Bedarf besteht. 

Zum Konzept des Social Prescribing gibt es seitens Sozialer Arbeit, wie dargelegt, Klärungsbedarf. Die vielleicht wichtigste Frage ist: Wie gut gelingt es Link Workern, bei den vielfach komplexen sozialen Problemlagen ihrer Patient*innen, ein passendes Angebot zu finden und sie erfolgreich in soziale Angebote zu vermitteln? Zu bedenken ist hierbei, dass für viele Patient*innen der Gang zu einer weiteren Institution eine grosse Hürde darstellt. Heruntergebrochen auf den Schweizer Kontext, stellen sich weitere Fragen: Wie kann die Schwelle zur Angebotsnutzung gesenkt werden? Welche Patient*in­nen werden tatsächlich erreicht? Wie hoch ist die Akzeptanz von Social Prescribing im Allgemeinen? In Pilotprojekten sollten diese Fragen untersucht und die Ergebnisse evaluiert werden.

Zusammenfassend hat Social Prescribing das Potenzial, die Einsamkeit zu senken, die soziale Teilhabe zu erhöhen und die sozialarbeiterischen Angebote zu ergänzen. Der Vorteil von Social Prescribing könnte sein, dass es insbesondere auch junge Menschen erreicht, also eine Zielgruppe, die im Vergleich zu anderen Altersgruppen häufiger von Einsamkeit betroffen ist (BFS, 2023). 
 

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