«Wir wollen für aktuelle und zukünftige Herausforderungen bereit sein»

09.04.2024 Dr. Vera Mitter ist seit Anfang Jahr Leiterin Forschung des Fachbereichs Geburtshilfe am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule. Zuletzt forschte Vera Mitter an der Universität in Oslo in einem grossen europäischen Forschungsprojekt. Wir haben mit Vera Mitter in diesem Interview über ihre Ziele, Trends und Herausforderungen in ihrem Forschungsfeld gesprochen.

Vera Mitter

Vera Mitter, Sie leiten neu die Forschung Geburtshilfe an der BFH, haben ursprünglich aber Pharmazie und Epidemiologie studiert. Wie sind Sie zur Geburtshilfe gestossen?

Während meinem Master-Studium entdeckte ich meine Faszination für die Themenfelder Fertilität, Schwangerschaft und Geburt. In meiner Master-Thesis evaluierte ich wie Müttersterblichkeit durch Verhütung reduziert werden kann. Da wurde mir bewusst, dass Schwangerschaft und Geburt für gewisse Risikogruppen und in bestimmten Ländern eine grosse medizinische Herausforderung darstellt. In der Folge forschte und arbeitete ich im In- und Ausland rund um diese Themenfelder.

Durch meine eigenen Schwangerschaften und Geburten wurden mir dann vermehrt die gesellschaftlichen Anforderungen an Schwangere, Mütter und Eltern sowie die herausfordernde Vereinbarkeit von Familie und Beruf bewusst. Die Schweiz hat da bezüglich Gleichberechtigung und Familienfreundlichkeit gegenüber anderen Ländern wie zum Beispiel Norwegen deutlich Aufholpotential.

Im Rahmen des PhD-Programms an der Frauenklinik am Inselspital Bern beschäftigte ich mich dann intensiv mit Reproduktionsmedizin. In den letzten 18 Monaten arbeitete ich als Postdoc an der Universität Oslo und forschte im Rahmen des europäischen Kollaborationsprojekts ConcePTION zum Thema Migränemedikation in der Schwangerschaft.

Was hat Sie dazu bewogen, sich für diese Stelle zu bewerben?

Als ich die Stellenbeschreibung sah, dachte ich intuitiv, dass das meine Traumstelle ist. Dass ich nicht Hebamme bin, liess mich natürlich zögern. Als mir aber eine Freundin, die selbst Hebamme ist, die Anzeige weiterleitete und mich zur Bewerbung motivierte, schickte ich meine Unterlagen ab. Wie man sieht, hat sich das ausgezahlt.

Welche Visionen haben Sie in dieser neuen Position?

Da ich selbst nicht Hebamme bin, steht für mich die Interprofessionalität und die Forschungsmethodologie im Fokus. Das Handwerk der Forschung kann auf alle Themenfelder angewendet werden, speziell wenn das Interesse und die Motivation vorhanden sind.

Ich sehe mich selbst als «Befähigerin» und möchte das bestehende Potential im Team durch Motivation und Unterstützung weiterentwickeln. In der Gruppe Forschung Geburtshilfe bin ich auf ein unglaubliches Potential und sehr motivierte Mitarbeiter*innen getroffen.

Schlussendlich geht es mir darum, die Forschung in der Geburtshilfe weiterzuentwickeln - von der Empfängnis (Fertilität) bis zum Postpartum. Da dies mit Frauen- und Kindergesundheit zu tun hat, wurden viele Themen in der Vergangenheit stiefmütterlich behandelt. Das bedeutet einerseits viel brachliegendes Potential und echte Forschungslücken, die gefüllt werden können. Andererseits heisst das auch, dass wir wichtige Forschung machen können, die hoffentlich das Leben der Frauen, ihrer Kinder und auch die Hebammenprofession weiterbringen.

In der Gruppe Forschung Geburtshilfe bin ich auf ein unglaubliches Potential und sehr motivierte Mitarbeiter*innen getroffen.

Dr. Vera Mitter
Dr. Vera Mitter Leiterin Forschung Geburtshilfe

Aktuell hat die Geburtshilfe Forschungsprojekte in den Bereichen Chancengleichheit in der geburtshilflichen Versorgung, komplexe perinatale Situationen und untersucht neue perinatale Versorgungsmodelle. Wo sehen Sie weiteres Potenzial für Forschung in der Geburtshilfe?

Neben der Weiterführung dieser Themenbereiche, die ich alle sehr wichtig erachte, bringe ich natürlich die beiden Themenfelder Medikation in Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit sowie Infertilität und Fortpflanzungsmedizin ein. Auch demographische Aspekte finde ich sehr spannend: diese betreffen uns ja auch direkt in der Geburtshilfe mit der tiefen Kinderzahl pro Frau, dem steigenden Alter der Mütter und auch der sich zuspitzende Fachkräftemangel ist schlussendlich ein demografisches Problem.

Gibt es bestimmte Herausforderungen oder Trends im Bereich der Geburtshilfe, auf die Sie Ihr Augenmerk richten möchten?

In der Schweiz werden Mütter immer älter, was zu höheren Risiken während der Schwangerschaft und Geburt führen kann. Wir können also davon ausgehen, dass komplexe perinatale Situationen zunehmen. Das Risiko einer chronischen Erkrankung und deren medikamentöse Therapie nimmt ebenfalls mit dem Alter zu und betrifft immer mehr Schwangere. Zudem sind Komplikationen wie Gestationsdiabetes oder Frühgeburtlichkeit häufiger und Paare erreichen weniger häufig die angestrebte Familiengrösse. Lebensstil-Faktoren und Alter sind auch wichtige Gründe für die abnehmende Fruchtbarkeit und den Einsatz von Fertilitätsbehandlungen.

Durch diese Herausforderungen und den Fachkräftemangel wird das Gesundheitswesen gezwungenermassen auf neue Versorgungsmodelle in der Geburtshilfe angewiesen sein. Hier liegt die BFH im Trend mit der Entwicklung der Advance Practice Rollen, die leider in der Gesellschaft und im Gesundheitswesen noch zu wenig Beachtung empfangen. Es ist zentral, diese Rollen auf die zukünftigen Herausforderungen auszurichten und heute die Ausbildung anzubieten, um den Problemen von morgen gewachsen zu sein. Wir bieten bereits jetzt Lösungsansätze für die Zukunft und genau das ist auch das Motto unserer Forschung. Wir wollen für aktuelle und zukünftige Herausforderungen bereit sein und auch Lösungen für die Umsetzung in der Praxis anbieten.  

Welche Ziele haben Sie sich für die kommenden Jahre in Ihrer neuen Position gesetzt? Gibt es bestimmte Meilensteine oder Projekte, die Sie erreichen möchten?

Im Moment entwickeln wir verschiedene Projektanträge in den genannten Forschungsbereichen und das Ziel ist, mindestens einen Teil davon finanziert zu bekommen. Ich möchte gerne PhD-Stellen anbieten, um die Akademisierung der Hebammen in der Schweiz voranzubringen. Weiter sind mir interprofessionelle und internationale Kollaborationen aber auch die enge Zusammenarbeit mit unseren Praxispartnern wichtig. Ich will die Visibilität erhöhen, auch über die Pflege der Netzwerke. Sehr zentral ist mir die hohe Motivation im Team zu erhalten oder noch zu steigern, so dass uns allen die Arbeit Freude macht und wir mit unseren Forschungsprojekten das Leben für Mütter, Neugeborene und Hebammen positiv beeinflussen können.

Persönlich würde ich gerne in meinem Fachbereich habilitieren und ein Vorbild für Frauen und Familien in der Akademie sein.

 

Zur Person

Vera Mitter studierte Pharmazie an den Universitäten Bern und Basel sowie an der EPFL in Lausanne. Ihren Master in Demography & Health absolvierte sie an der London School of Hygiene and Tropical Medicine (LSHTM). Danach arbeitete Vera Mitter als Projektkoordinatorin und Forschungsassistentin im Kinderkrebsregister an der Universität Bern und später als Forscherin am Inselspital in Bern. An der Universität Bern und der Swiss School of Public Health schrieb sie ihre Dissertation zu «Obstetric and perinatal outcomes of women treated for subfertility and children born after in vitro fertilisation». Bevor Vera Mitter an der BFH als Leiterin Forschung Geburtshilfe begann, arbeitete sie dreieinhalb Jahre als Postdoc in Norwegen am Norwegian Institute of Public Health am Centre for Fertility and Health und später an der Universität Oslo.

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