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Mitmenschsein mit Menschen mit Demenz

19.09.2024 Wenn Menschen an Demenz erkrankt sind, kann es betreuenden Angehörigen helfen, mit ihnen eigenweltorientiert zu kommunizieren. Entsprechend geschulte Angehörige nehmen wahr, dass sie kommunikativ kompetenter sind und erleben ihre Situation als weniger belastend. Dies zeigt ein partizipatives Forschungsprojekt der BFH.

  • Prof. Bernhard Müller … forscht und doziert seit 2007 an der Berner Fachhochschule zur Sorge im fragilen Alter.

Das Wichtigste in Kürze

  • Kommunikationsschwierigkeiten belasten Angehörige von Menschen mit Demenz stark.

  • Eine Schulung zur eigenweltorientierten Kommunikation hilft pflegenden Angehörigen, die Beziehung zu Menschen mit Demenz zu gestalten.

  • Die Schulung verringert die Belastung der pflegenden Angehörigen deutlich und ermöglicht eine wertschätzende Verbindung zu den betreuten Menschen.

Für betreuende Angehörige von Menschen, die an Demenz erkrankt sind, gehören Kommunikationsschwierigkeiten zu den stärksten Belastungsfaktoren (Engel, 2007). Gesprächsangebote, die vor allem das explizite Wissensgedächtnis ansprechen, bringen Menschen mit Demenz oft in eine Notlage, da diese Ressource unmittelbar blockiert sein kann. In dieser Unsicherheit können emotionale und körperliche Spannungen entstehen, die den Austausch erschweren. Menschen mit Demenz lehren uns auf einer grundlegenden Ebene, dass menschliche Kommunikation weit mehr ist als der Austausch von Faktenwissen: Bei einer Begegnung steht nicht der Mensch als Individuum im Zentrum, vielmehr geht es um den Raum des Zwischenmenschlichen. 

Die interaktionsbasierte Befähigung von Menschen mit Demenz

In verschiedenen Entwicklungs- und Evaluationsprojekten der letzten 15 Jahre wurde am Institut Alter der Befähigungsansatz Eigenweltorientierte Kommunikation Demenz entwickelt. Er basiert auf Interaktionen für die Arbeit und das Zusammenleben mit Menschen mit Demenz. Ihm liegen insbesondere das Sorgeverständnis von Heidegger (Luckner, 2001), das dialogische Prinzip (Buber, 2006) sowie die Phänomenologie des Leibgedächtnisses (Fuchs, 2017) zugrunde. Heidegger und Buber betonen das Mitmenschsein als grundlegende menschliche Wesenshaltung. Wahres Mitsein ist mit dem uneigennützigen Interesse verbunden, den anderen – in diesem Fall den Menschen mit Demenz – in seiner einzigartigen Andersheit als Mensch kennenzulernen. Fuchs hebt die Bedeutung des zwischenleiblichen Gedächtnisses hervor: eine körperlich-emotionale Erinnerung sozialer und kultureller Erfahrungen, auf der eine auf Kooperation ausgerichtete Begegnung mit Menschen mit Demenz aufbauen kann. 

Methodisch bedient sich die Eigenweltorientierte Kommunikation Demenz zum einen der Gesprächsmethode Idiolektik (Bindernagel et al., 2018), die sich konsequent an der Eigensprache des Gegenübers orientiert. Zum anderen orientiert sie sich an der Bewegungslehre Kinaesthetics (Hatch & Maietta, 2003), die zu körperlich-emotionaler Co-Präsenz befähigt, um mit bewusster, achtsamer Berührungs- und Bewegungsinteraktion die Ressourcen des Leibgedächtnisses zu aktivieren – gerade, wenn Worte fehlen oder fehl am Platz sind.

An der Abschlussfeier der Interaktionsschulung für Angehörige von Menschen mit Demenz erhielten 25 Personen ihr Diplom. Foto: Oliver Slappnig
An der Abschlussfeier der Interaktionsschulung für Angehörige von Menschen mit Demenz erhielten 25 Personen ihr Diplom. Foto: Oliver Slappnig

Eine Interaktionsschulung für betreuende Angehörige

Aus dem Befähigungsansatz entstand in einem partizipativen Forschungsprozess die zwölfteilige Interaktionsschulung «Eigenweltorientiert kommunizieren lernen» für Angehörige von Menschen mit Demenz (Müller et al., 2024). Im letzten Jahr wurde sie in Zusammenarbeit mit Alzheimer Bern von 25 Fachpersonen aus verschiedenen Bereichen der Demenzbetreuung getestet und evaluiert. Dabei führten die in einem Pilotstudiengang zu Trainer*innen ausgebildeten Fachpersonen die Schulung mit insgesamt 130 betreuenden Angehörigen durch. 

Die Teilnehmenden setzten sich in der Interaktionsschulung mit der Tatsache auseinander, dass sie an der Demenz zwar nichts ändern können, dafür jedoch ihre Beziehung mit dem Menschen mit Demenz gestalten können. Sie probierten neue Kommunikationsangebote aus, beobachteten ihre Wirkung und lernten, sich nicht an den eigenen Erwartungen zu orientieren. So entdeckten sie die Wirkung der Beziehungselixiere Eigensprache, Berührung und Bewegung und machten sich mit der Begleitungsrolle vertraut. Diese ermöglicht es ihnen, die Angehörigen mit Demenz als einzigartige Menschen auf Augenhöhe neu kennenzulernen. 

Das Belastungserleben sinkt signifikant

Damit den Teilnehmenden diese Begegnung gelingen kann, setzen sie sich auch mit der notwendigen Insel der eigenen Regeneration auseinander– ganz im Sinn des antiken Philosophen Epikur, der feststellte: «Nur wer in sich selbst beruhigt ist, beunruhigt auch den anderen nicht.» Diese Beruhigungsarbeit stärkt die Verbundenheit mit sich selbst und so die Resilienz betreuender Angehöriger, was mehr Gelassenheit im Zusammensein mit Menschen mit Demenz ermöglichen kann. Die Kursteilnehmerin Andrea Christ Colin beschreibt diese Kontaktmöglichkeit so: «Wenn ich mich aus meiner eigenen Verbundenheit auf mein Gegenüber einlasse und die Schlüsselwörter aufgreife, die ich höre, entstehen Gespräche, die ich so nie für möglich gehalten hätte. Trotz fortgeschrittener Demenz kann ich mit meinem Mann im Gespräch bleiben, was ihm sehr wichtig ist. Diese Art von Austausch empfinden wir beide als sehr bereichernd und verbindend» (2023).

Die entlastende Wirkung der Interaktionsschulung konnte auch durch die Auswertung des Fragebogens «Häusliche Pflege Skala HPS» nachgewiesen werden, den die 130 Teilnehmenden jeweils vor Kursbeginn und nach Kursabschluss ausfüllten. Das subjektive Belastungserleben der betreuenden Angehörigen fällt nach Kursabschluss deutlich geringer aus als vor Kursbeginn. Damit sinkt auch ihr Risiko, selbst an psychosomatischen Beschwerden zu erkranken. Mit der abnehmenden Belastung werden Ressourcen freigesetzt, die für die eigenweltorientierte Kommunikation zur Verfügung stehen und immer wieder Momente heiterer Gelassenheit ermöglichen.

Literatur

  • Bindernagel, Daniel, Krüger, Eckard, Rentel, Tilman & Winkler, Peter. (Hrsg.). (2018). Schlüsselworte – Idiolektik in Therapie, Beratung und Coaching. (3. Aufl.) Heidelberg: Carl-Auer.
  • Buber, Martin. (2006). Das Dialogische Prinzip. (10. Aufl.) Heidelberg: Lambert Schneider.
  • Christ Colin, Andrea. (2023). Menschen mit einer demenziellen Erkrankung in ihrer einzigartigen Ganzheit würdigen. Veröffentlicht im Jahresbericht 2023 von Alzheimer Aargau.
  • Engel, Sabine. (2007). Belastungserleben bei Angehörigen Demenzerkrankter aufgrund von Kommunikationsstörungen. Berlin: LIT.
  • Fuchs, Thomas. (2017). Das Leibgedächtnis in der Demenz. In Kruse, Andreas. (Hrsg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter. Heidelberg: Akademische Verlagsgesellschaft AKA.
  • Hatch, Frank & Maietta, Lenny. (2003). Kinästhetik. Gesundheitsentwicklung und menschliche Aktivitäten. (2. Aufl.). München & Jena: Urban & Fischer.
  • Luckner, Andreas. (2001). Martin Heidegger: «Sein und Zeit». (2. Aufl.) Schöningh: UTB.
  • Müller, Bernhard, Haas, Kathy, Born, Jonas & Riedo, Selina. (2024). Interaktionsschulung für Angehörige von Menschen mit Demenz (ISAD). Schlussbericht des partizipativen Forschungsprojektes 2020–2023. Bern: Berner Fachhochschule, Institut Alter.
     

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