«Es geht um mehr, als einmal pro Monat Geld freizugeben.»

13.05.2024 Zehn Monate Praktikum auf dem Sozialdienst. Zehn Monate Zeit, im Hörsaal Gelerntes in der Praxis zu erproben. Zehn Monate Zeit, einzutauchen, auszuprobieren, anzupacken, auch Fehler zu machen und daraus zu lernen. Die Studentin Maša Burri und ihre Praxis­ausbildnerin Susan von Gunten nehmen uns mit auf diese Reise.

Ein Backsteingebäude und eine Skulptur
Der polyvalente Sozialdienst Zulg in Steffisburg – für zehn Monate der Praktikumsort der BFH-Studentin Maša Burri.

Mittwoch, 2. August 2023: Der erste Tag

Die Gedanken schlagen Purzelbäume, der Puls ist hoch. Maša Burri ist auf dem Weg nach Steffisburg. Endlich startet ihr erstes Praktikum. Während zehn Monaten wird die 25-Jährige auf dem polyvalenten Sozialdienst Zulg praktische Erfahrungen sammeln. Begleitet wird sie von ihrer Praxisausbildnerin Susan von Gunten. Maša Burri studiert im fünften Semester Soziale Arbeit. Sie hat bereits eine abgeschlossene KV-Ausbildung und mehr als vier Jahre Berufserfahrung im sozialpädagogischen Bereich im «Rucksack». «Der Wunsch, auf einem Sozialdienst zu arbeiten, war nicht von Anfang an da. Doch ich wollte die gesetzliche Sozialarbeit unbedingt ausprobieren.» 

Sie wird sehr herzlich willkommen geheissen, schüttelt unzählige Hände, stellt sich vor – sich all die Namen merken zu können, ist unmöglich. Am Abend ist der Kopf voll mit neuen Eindrücken. Überwältigend. So ein grosses Team aus administrativem und sozialarbeiterischem Personal, so viele verschiedene Abteilungen: die AHV-Zweigstelle, die Fachstelle für Gesellschaft, das Steuerbüro, die Finanzabteilung, die Offene Kinder- und Jugendarbeit … erstmal setzen lassen.

Eine rothaarige Frau lächelt.
Maša Burri studiert im fünften Semester Soziale Arbeit. Sie hat bereits eine abgeschlossene KV-Ausbildung und mehr als vier Jahre Berufserfahrung im sozialpädagogischen Bereich im «Rucksack».

Donnerstag, 10. August 2023: Teil des Ganzen werden

«Es sieht so banal aus, diese Vorgabe, mit welchen Farben wir beispielsweise unsere Termine in Outlook kennzeichnen müssen. Doch es ist für unsere Administration und die Zusammenarbeit mit ihr essenziell, dass wir uns verbindlich daran halten», sagt Susan von Gunten, während sie gemeinsam mit Maša Burri den Praxisordner sichtet. Dort drin findet sich viel Organisatorisches, Einführungschecklisten, Anleitungen und vieles mehr. Maša Burri versteht: Man ist hier Teil eines funktionierenden Ganzen. Man jongliert mit internen und externen Terminen, mit Pendenzen und mit diversen Kommunikationskanälen (Telefon, E-Mail, WhatsApp).

«Man muss lernen, irgendwie den Überblick zu behalten, Prioritäten zu setzen und sich ein System dafür aneignen», sagt Susan von Gunten. «Wenn zum Beispiel ein Beistandschaftsbericht alle zwei Jahre ansteht, so muss man den irgendwo auf dem Radar haben, sonst geht er vergessen.» Sowieso ist die Arbeit auf dem Sozial­dienst geprägt von viel Schreibarbeit: Protokolle, 
Intake- und Abklärungsberichte, Aktennotizen, Mailverkehr, interne und externe Anträge etc. Da kommt Maša Burri ihre KV-Erfahrung zugute. Wertvoll ist auch, dass sie allen Sozialarbeitenden über die Schulter blicken darf. Wie organisieren sie sich? Wie bewirtschaften sie ihre Post? Wie arbeiten sie mit dem Fallsystem? Wie bereiten sie sich auf ein Erstgespräch vor? 

ZGB, SHG, SHV, SKOS, BKSE … «Ich verbringe gerade sehr viel Zeit damit, mich einzulesen und zurechtzufinden», sagt Maša Burri. «Zum Glück hatte ich im vierten Semester ein Modul mit Inhalten zur Sozialhilfe belegt. Dadurch habe ich schon eine Ahnung von den rechtlichen Rahmenbedingungen.» Nun erlebt sie, wie diese Rahmenbedingungen angewendet werden. Und strahlt: «Ich darf bereits bei Klientengesprächen dabei sein.» Die gelernte Theorie wird real in der Praxis. Das motiviert.

Donnerstag, 7. September 2023: Der erste eigene Fall

Immer am Donnerstag werden auf dem Sozialdienst Zulg die neuen Fälle verteilt. Alle Anmeldungen zur wirtschaftlichen Sozialhilfe, Kontaktaufnahmen für eine präventive Beratung, Abklärungsaufträge oder Beistandschaftsdossiers der KESB werden kurz von den Bereichsleitenden vorgestellt.

Maša Burri ist gespannt. Heute ist auch sie beteiligt. Ab nun wird es ernst. Sie übernimmt mit Herrn L. ihren ersten eigenen Fall. Sie vereinbart eigenständig Termine und übernimmt die Gesprächsführung im Beisein von Susan von Gunten. Herr L. wurde von einem anderen Sozialdienst zum Sozialdienst Zulg übertragen. «Der Fall ist ganz schön dynamisch», meint Susan von Gunten, «er gibt auch ordentlich zu tun. Es kommen immer wieder neue Ideen auf, viele verschiedene Fachpersonen sind involviert. Maša kann hier viel lernen.»

Wer wird die Person sein, die mir gegenübersitzt? Mache ich alles richtig? Läuft es so, wie ich es mir im Kopf zurechtgelegt habe?

Maša Burri BFH-Studentin

Mittwoch, 20. September 2023: Fragen vor dem Erstgespräch

«Wer wird die Person sein, die mir gegenübersitzt? Mache ich alles richtig? Läuft es so, wie ich es mir im Kopf zurechtgelegt habe?» Maša Burris Aufregung vor dem Erstgespräch mit Herrn L. ist gross. Susan von Gunten kennt das Gefühl. Auch wenn sich mit der Zeit und der Erfahrung mehr Sicherheit einstellt: «Man weiss einfach nie, wer einen da erwartet. Ist es jemand, der froh ist, unsere Unterstützung zu erhalten? Oder gibt es Vorurteile? Was bringt die Person mit? Unsere Hauptaufgabe ist es, eine Arbeitsbeziehung herzustellen. Das bleibt immer wieder eine spannende, aber sehr schöne Herausforderung.»

Zu Beginn investiert man viel in die Situationsklärung, um die Klientschaft individuell und zielgerecht unterstützen zu können. Das Grundziel ist die Ablösung von der Sozialhilfe. Hier ist methodisches Können gefragt: Was mache ich nun mit der*dem Klient*in? Was ergibt Sinn? Mit wem muss ich zusammenarbeiten? Welche Gesprächsführung ist angezeigt?

Eine rothaarige Frau im Gespräch hinter einer Glasscheibe.
Zu Beginn investiert man viel in die Situationsklärung, um die Klientschaft individuell und zielgerecht unterstützen zu können.

Montag, 16. Oktober 2023: Neues Selbstbewusstsein

Maša Burri öffnet ihr Outlook-Programm. Sie klickt sich durch das Menü bis zu den Optionen, in denen ihre E-Mail-Signatur hinterlegt ist. Maša Burri – Praktikantin, steht da. Es fühlt sich unpassend an, als wäre es ein Schuh, der inzwischen zu klein geworden ist. Delete. Der Cursor blinkt und ruft nach Ersatz. Sozialarbeiterin i. A. – in Ausbildung. Speichern. «Ich bin Sozialarbeiterin in Ausbildung. So arbeite ich als Teil des Teams hier. Auch meine Klient*innen respektieren mich als Sozialarbeiterin», sagt sie. «Selbst die Ausgebildeten lernen ja jeden Tag etwas dazu», lacht Susan von Gunten.

Eine braunhaarige Frau mit Brille lacht.
«Selbst die Ausgebildeten lernen jeden Tag etwas dazu», sagt Praxisausbildnerin Susan von Gunten.

Donnerstag, 23. November 2023: Der Handlungsspielraum

Stühle werden gerückt, die 15 Sozialarbeitenden des Sozialdienstes Zulg suchen sich ihren Platz im Sitzungszimmer. Gemurmel, Gelächter. Teamaustauschmeeting zu konkreten Fallfragen. Die Stimmung ist gut. Alle haben sich auf die Besprechung vorbereitet. Sie teilen das Verständnis, gemeinsam als Team ein wichtiges Arbeitsinstrument zu sein. Eine Art Kompass mit gemeinsamen Haltungen, der den Weg weist. Dort, wo Spielraum da ist – beispielsweise bei den situationsbedingten Leistungen. Darf die Tochter von Frau B. den Schlittschuhkurs für 250 Franken besuchen? Können wir Frau M. ein neues Bett finanzieren? Wie sieht es mit der von Herrn K. gewünschten Zweitausbildung aus?

«Es kann nicht sein, dass es von der persönlichen Einstellung des*der Sozialarbeitenden abhängt, ob jemand grosszügig ist und auch nicht davon, ob jemand es schlecht aushält, nein zu sagen. Gerade auf einem Sozialdienst ist das Team ein Instrument, das sehr wichtig ist», sagt Susan von Gunten. «Wir versuchen, uns immer wieder einzumitten.»

Spielraum – das klingt leicht, nach Tummelfeld, nach Kreativität, nach Individualität – für Sozialarbeitende wie auch für Klient*innen. Maša Burri lacht laut bei der Frage, ob sie diesen Spielraum schätzt: «Das war zu Beginn sehr irritierend: Es gibt so viele Vorgaben, die Klarheit und Orientierung bringen und trotzdem nach Ermessen der Sozialarbeitenden beurteilt werden müssen. Die*der Klient*in und die jeweilige Lebenssituation müssen als Ganzes betrachtet werden, damit das Gleichheits- und Differenzierungsgebot nicht verletzt wird und das Nutzen der Ermessensspielräume verhältnismässig ist. Das ist sehr anspruchsvoll. Ich bin dankbar, können wir diese Fragen im Team immer wieder diskutieren.»

Ich muss herausfinden, welche Sozialarbeiterin ich sein möchte.

Maša Burri BFH-Studentin

Mittwoch, 10. Januar 2024: Feedbackkultur

«Es ist grossartig, dass wir das hier durchziehen …», sagt Susan von Gunten. Maša Burri nickt. Das gemeinsame Ausbildungsgespräch findet einmal pro Woche statt – ohne Wenn und Aber. Die beiden sitzen im gemeinsamen Büro am kleinen, runden Besprechungstisch. Der Ort, an dem aus der Praktikantin Maša Burri in den letzten Wochen die Sozialarbeiterin i. A. geworden ist. «Zu Beginn hattest Du viele sachliche Fragen: Wo kann ich das nachlesen? Ich sehe hier Vorgaben, aber mein Klient möchte das. Was nun?» – «Ja, heute muss ich nicht mehr jedes Mal fragen, ob es richtig ist, was ich tue», sagt Maša Burri. Heute sind die Inhalte der Besprechungen komplexer, beinhalten konkrete Vorschläge für Handlungspläne, die aus Sicht der angehenden Sozialarbeiterin Sinn ergeben. 

Die Gespräche bieten auch Raum für Reflexion, für die Bildung einer eigenen professionellen Identität: «Ich muss herausfinden, welche Sozialarbeiterin ich sein möchte», so Maša Burri. Dies zeigt sich immer wieder an einem auch auf dem Sozialdienst wichtigen Thema: Der Ausgestaltung einer Arbeitsbeziehung zur*m Klient*in.

«Ich habe zu Beginn meines Praktikums eine Klientin übernommen, die einige Jahre jünger ist als ich», Maša Burri blickt in die Ferne, während sie in die Erinnerung eintaucht. «Mit ihr hatte ich einen sehr offenen und herzlichen Umgang. Wir hatten eine gute Beziehung aufgebaut. Dann ging es um eine Rückerstattung, die uns die Klientin überweisen musste. Sie war damit nicht einverstanden.» Susan von Gunten nickt: «Du hast heftige Nachrichten per WhatsApp auf unserem Sozialdiensthandy erhalten.» – «Ja, das kann sehr belasten», stimmt Maša Burri zu. «Die Gedanken kreisen. Habe ich Fehler gemacht? Hätte ich etwas anders machen können? Kann ich die damalige Beziehung wieder herstellen? Was mache ich jetzt?» Susan von Gunten nickt: «Es sind Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Du hast es geschafft, diese Beziehung wieder aufzubauen und trotzdem bei dem zu bleiben, was wir besprochen hatten.» Maša Burri bestätigt dies nickend – vielleicht auch ein wenig stolz. Leicht war es nicht. Viele Gespräche, reflektierendes Handeln, Austausch mit anderen Sozialarbeitenden, Erklärungen gegenüber der Klientschaft, auch Visualisierungen, waren nötig. Schliesslich die Frage: Wie können wir nun gemeinsam weiterschauen?

Montag, 26. Februar 2024: Die Hilfsmittel

Es klingelt im Backsteinhaus in Steffisburg, wo sich der Sozialdienst Zulg befindet. Die BFH ist zu Besuch. Die «impuls»-Redaktorin möchte in Erfahrung bringen, wie es im Praktikum gelingt, Kompetenzen zu erwerben, die einen nach Abschluss des Studiums zur Sozialarbeiterin qualifizieren. Maša Burri grinst, als sie meine Frage beantwortet, wie sattelfest sie sich heute fühlt. «Ich würde sagen, ich falle nicht mehr jedes Mal vom Pferd, wenn es holprig wird. Ich habe hier die Möglichkeit, sehr selbständig methodisch individuell und mit einem systemischen Ansatz mit meinen Klient*innen zu arbeiten. Die Vernetzung mit dem Hilfesystem und den involvierten Fachpersonen ist essenziell. Man lernt jeden Tag etwas Neues.» 

So geht es auch mir, denn ich selbst bin keine Sozialarbeiterin und lasse mir staunend zeigen, welche Hilfsmittel den Sozialarbeitenden für ihren Arbeitsalltag zur Verfügung stehen. Hier der rote Faden, der die kleinen Meilenstein-Stationen verbinden kann, da das Kartenset mit Fragen nach dem Gestern, dem Heute und dem Morgen oder das Arbeitsblatt mit der Berg-Route, das den Weg aus der Sozialhilfe visualisiert. Nicht zu vergessen das Hängeregister mit organisationalen Checklisten und online natürlich die «Bibeln» der Sozialhilfe: die SKOS-Richtlinien und das BKSE-Handbuch als Webportal.

Wie kann der Sozialdienst als Organisation den Kompetenzerwerb unterstützen? Susan von Gunten denkt nach: «Es hilft, eine Offenheit gegenüber Fehlern zu haben. Das Schlimmste wäre eine schlechte Fehlerkultur. In vielen Fällen gibt es klare Richtlinien, aber bei vielen Fragen auch nicht. Zu Beginn ist das schwer auszuhalten – dort merkt man aber mit der Zeit auch den Fortschritt. Man beginnt, sich zu bewegen.»

Eine rothaarige Frau durchsucht einen roten Ordner.

Frühjahr 2024: Ausblick

Langsam geht der Frühling über in einen langen Sommer. Das Praktikum endet für Maša Burri Ende Mai. Sie wird dann eine weitere Etappe auf dem Weg zur Sozial­arbeiterin geschafft haben. Ob sie sich vorstellen kann, auch nach Abschluss ihres Studiums auf dem Sozialdienst zu arbeiten? «Ich hatte vor dem Beginn meines Praktikums das Gefühl, dass Sozialhilfe und Sozialdienste ein starres Konstrukt sind. Dass sie bloss Rädchen im System sind, die funktionieren. Diese Haltung musste ich korrigieren. Hier arbeiten viele offene Menschen, die gemeinsam mit ihrer Klientel nach nachhaltigen Lösungen streben. Ich kann es mir auf jeden Fall gut vorstellen.»

Von Gunten, die selbst seit fast sieben Jahren und seit Abschluss ihres Studiums auf dem Sozialdienst arbeitet, bestätigt dies und lächelt: «Man kann viel für die Klient*innen in Gang setzen, auch auch methodisch. Wir begleiten diese Menschen ein Stück in ihrem Leben und möchten für sie das möglichst Beste rausholen und Unterstützung anbieten. Es geht hier um mehr, als einmal pro Monat Geld freizugeben.»

Den Abschlusskompetenzen auf der Spur

Wer den Bachelor in Sozialer Arbeit absolviert, ist nach Abschluss des Studiums in zwölf professionellen Handlungskompetenzen fit (Kompetenzprofil). In verschiedenen Beiträgen gehen wir in den nächsten Monaten den Fragen nach, was unter diesen Kompetenzen zu verstehen ist, wie sich das «Kompetent-sein» in den verschiedenen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit zeigt und wie es durch die enge Verzahnung von Hochschulsemestern und Praxisausbildung gelingt, den Kompetenzerwerb zu unterstützen. Im Fokus dieses Beitrags steht die sozialrechtliche und sozialadministrative Kompetenz: Bachelor-Absolvent*innen können rechtliche Rahmungen im Sozialbereich und administrative Prozesse verstehen und professionelle Ermessenspielräume erkennen und anwenden.

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