Behindertenrechtskonvention: Es gibt noch einiges zu tun

15.05.2024 Vor zehn Jahren trat die UNO-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Die Schweiz verpflichtete sich, Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Behinderung konfrontiert sind. Wo steht die Umsetzung heute?

Ein Fünftel der Schweizer Bevölkerung lebt mit einer Behinderung. Im Alltag erleben viele von ihnen erhebliche Einschränkungen. Der Bund schrieb in einer Medienmitteilung Ende 2023, es seien in den letzten Jahren viele Fortschritte erzielt worden, insbesondere beim Zugang zu Gebäuden und zum öffentlichen Verkehr. Die Behinderten-Dachverbände sehen das Erreichte wesentlich kritischer. Wie ist diese Diskrepanz einzuordnen?

Was bedeutet Inklusion?

Der zentrale Leitgedanke der UNO-Behindertenrechtskonvention ist die Inklusion, also die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Dahinter verbirgt sich ein neues Verständnis von Behinderung: Menschen mit einer Beeinträchtigung sind demnach nicht einfach behindert – sie werden es erst dadurch, dass für sie in wichtigen Lebensbereichen Hindernisse bestehen, die es erschweren, wie alle anderen zu leben (vgl. humanrights.ch, 2020).

Entsprechend umfassend sind die Rechte, die die Behindertenrechtskonvention enthält. Dazu gehören die Mobilität und der Zugang zu Gebäuden aber auch vieles mehr. Beispielsweise geht es um die Gleichbehandlung in den Bereichen soziale Sicherheit, Wohnen, Bildung, Arbeit, politische Rechte und Zugang zur Justiz. Viele dieser Bereiche fallen in die Kompetenz der Kantone.

Breite Expertise der BFH

Die BFH begleitete in den vergangenen Jahren mehrere Projekte im Bereich Behinderung. BFH-Dozent Matthias von Bergen engagierte sich unter anderem bei einer Studie zu den Finanzierungsmodellen von Wohnangeboten im Auftrag des Eidg. Büros für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, des Bundesamts für Sozialversicherungen und der Kantonalen Sozialdirektorenkonferenz*. Der Experte sagt zum Effekt, den die UNO-Behindertenkonvention auf die Schweiz hatte:

«Sie löste eine Dynamik und ein Umdenken aus. Bund, Kantone und Institutionen beginnen sich neu auszurichten. Bis heute fokussiert das Umdenken vor allem auf den Bereich Wohnen. Dort sind teilweise auch neue Finanzierungssysteme geschaffen worden, die vermehrt Angebote ausserhalb von Institutionen möglich machen sollen. Die heutigen Angebote spiegeln dies aber noch kaum. Es gibt grossen Entwicklungsbedarf, um die Inklusion zu erreichen.»

Bis heute fokussiert das Umdenken vor allem auf den Bereich Wohnen.

Matthias von Bergen
Matthias von Bergen Dozent

Matthias von Bergen und seine Kolleg*innen begleiteten ab 2021 zudem ein Projekt der drei Branchenverbände CURAVIVA Schweiz, INSOS Schweiz und Anthrosocial, das inklusiven Wohnraum für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung fördern soll. Inklusion im Bereich Wohnen bedeutet demnach, die Wohnform und den Wohnort wählen zu können und zu entscheiden, mit wem man zusammenleben will. Die Hürden bei der Suche nach einer Wohnung beschrieb eine im Projekt befragte Expertin aus eigener Erfahrung wie folgt:

«Das grosse Problem ist der Abschluss einer Wohnung. Man geht vielleicht vier bis fünf Wohnungen besichtigen, und dann ist man dermassen frustriert, dass man eigentlich gar keine mehr anschauen möchte. Das ist das Dilemma, in dem ich mir mehr Unterstützung wünschte.»

Die Analyse der BFH zeigte, dass es für solche Unterstützung einige gute Beispiele gibt. Ein solches Beispiel ist WohnenBern. Die Institution bietet inklusives Wohnen in der Stadt Bern an. Dazu gehören unterschiedlich intensive Begleitungs- und Betreuungssettings, die zum Ziel haben, die Wohnfähigkeit der Bewohner*innen wieder herzustellen oder zu festigen. Geschäftsführerin Karin Hoffmann sagte im Frühjahr 2023:

«Wir stellen seit einigen Jahren fest, dass die Nachfrage nach eigenem Wohnraum und Kleinstwohnraum im Vergleich zu geteilten Wohnformen und heim-ähnlichen Settings enorm zunimmt.»

Die von der BFH erforschten Beispiele und Handlungsempfehlungen sind in eine Website eingeflossen, die sich an Institutionen, Fachkräfte, Hauswartspersonal, Wohnungsvermietende und Wohnungssuchende richtet. Im Rahmen des Projekts haben sich Matthias von Bergen und seine Kolleg*innen auch mit der Frage auseinandergesetzt, wie Projekte finanziert werden können. Sie sahen in der sogenannten Subjektfinanzierung einen möglichen Weg.

Nachholbedarf bei der Arbeit

In den Kantonen Bern und Zürich sind kürzlich Gesetze in Kraft getreten, die die Subjektfinanzierung für den Bereich Wohnen vorsehen. Das heisst, dort zahlen die Behörden die Betreuungsgelder künftig nicht mehr an Institutionen, die Wohnraum anbieten, sondern direkt an Menschen mit Behinderungen mit Unterstützungsbedarf. Diese erhalten also ein persönliches Budget. Es bleibt abzuwarten, ob dieser Schritt zu mehr inklusiven Wohnangeboten führt. Klar ist, es bleibt im Bereich Inklusion von Menschen mit einer Beeinträchtigung noch einiges zu tun. BFH-Dozent Matthias von Bergen:

«In anderen Bereichen wie etwa im Bereich Arbeit lief bisher vergleichsweise wenig. Unterdessen wurde die Schweiz vom UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen unter anderem auch dafür gerügt.»

Für Matthias von Bergen war dies Motivation zu einer Forschungsreise, die ihn unter anderem nach Katalonien und Finnland führte. Er suchte in sechs Staaten und rund 30 Institutionen nach Impulsen für neue Projekte, diesmal im Bereich Arbeit. Sein Fazit: Es gibt viele Wege und Projektausrichtungen. Einigen engagierten Menschen ist es gelungen, den Handlungsspielraum für ihre Institution auszunutzen und Angebote aufzustellen, die von Menschen mit einer Behinderung sehr geschätzt werden. Heruntergebrochen auf die Schweiz sagt der BFH-Experte:

«Mehr Inklusion im Arbeitsbereich könnte die Schweiz etwa erreichen, indem Menschen mit Behinderungen, die im allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sind, einen Jobcoach zur Seite bekommen, der sie auch längerfristig begleiten kann.»

 

 

*Fritschi, Tobias, von Bergen, Matthias, Müller, Franziska, Lehmann, Olivier, Pfiffner, Roger, Kaufmann, Cornel & Hänggeli, Alissa. (2022). Finanzflüsse und Finanzierungsmodelle im Bereich Wohnangebote für Menschen mit Behinderung. Schlussbericht zuhanden des EBGB, des BSV und der SODK. Bern: Berner Fachhochschule.

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