Caring Spaces: Wie kann ein Raum sorgend sein?
11.09.2024 Eine sorgende Gesellschaft (Caring Society) ist auf Caring Spaces angewiesen. Doch was hat es mit sorgenden Räumen auf sich? Eine Annäherung an Caring Spaces und entsprechende Forschungsprojekte an der BFH.
Caring Spaces – sorgende Räume – heisst einer von fünf Schwerpunkten im strategischen Themenfeld Caring Society der BFH. «Wie um Himmels Willen kann ein Raum sorgend sein?» werden Sie vielleicht fragen. Die Antwort darauf kurz und knapp zusammengefasst:
Das Leben der Menschen spielt sich in unterschiedlichen Räumen ab – physischen, sozialen und digitalen. Sie haben einen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen. Räume, die unserem Bedürfnis nach Fürsorge und Anerkennung entsprechen, fördern unser Wohlergehen. Das macht sie zu sorgenden Räumen.
Durchaus möglich, dass Sie nach dem Lesen dieser vier Sätze mehr Fragezeichen haben als zu Beginn des Textes. Oder mindestens wissen möchten, wie sorgende Räume denn aussehen.
Räume und Menschen sind verbunden
Mit dem Schwerpunkt Caring Spaces gibt die BFH der Bedeutung von Räumen in einer Caring Society – einer sorgenden Gesellschaft – mehr Raum. Die Fragestellungen, denen sie bei Caring Spaces nachgeht, drehen sich darum, wie unterschiedliche Räume nicht nur ihren Nutzer*innen dienen, sondern auch zu Solidarität, Inklusion und Fürsorge beitragen können.
«Räume sind fast immer mit Menschen verbunden», erklärt Carolin Fischer, Leiterin des Themenfelds Caring Society. «Sie werden von Menschen geschaffen und von ihnen genutzt. Und menschliche Fürsorge findet grundsätzlich in Räumen statt. Damit kann sowohl eine Stadt, eine Institution oder auch ein Haushalt gemeint sein.»
Die Bezüge zwischen Räumen und Menschen gehen aber noch weiter. Räume schlagen sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen nieder und sie beeinflussen das Wohlbefinden von Menschen. Je nach Art, Beschaffenheit und Funktion haben Räume unterschiedliche Auswirkungen. Eine Fabrik, eine Autobahn, eine Kirche, ein Park – jeder dieser Räume prägt auf seine Weise das Empfinden und teilweise auch das Verhalten der Menschen.
Was einen sorgenden Raum ausmacht
Offene und ansprechende Räume rufen bei den Menschen Behaglichkeit, Entspannung, Empathie und Kreativität hervor. Durch diese Wirkung können sie wie ein Katalysator fungieren und dazu beitragen, die Solidarität zwischen den Menschen sowie einen gegenseitigen respektvollen Umgang zu fördern.
Mit Forschungsprojekten untersucht die BFH, wie Räume beschaffen sein müssen, um sorgend zu sein und wie genau solche Räume die Menschen prägen und ihre Beziehungen formen helfen. Die Studien decken vielfältige Themen rund um die Gestaltung und Nutzung von Räumen ab:
- Begegnungszonen in Stadtquartieren
- altersgerechte Hochhäuser
- Integration von Unterkünften für geflüchtete Menschen in Siedlungsräume
- nachhaltige Nutzung leerer Bürokomplexe als Wohn- und Arbeitsräume
Beispiel Schrebergarten
Gemeinsam ist praktisch allen Projekten, dass physische und soziale Räume ineinanderfliessen. Gleichwohl sind die Zugänge zu den Räumen nicht immer für alle Menschen frei von Barrieren. Selbst ein Raum, der auf den flüchtigen ersten Blick uneingeschränkt betretbar erscheint, kann beim genaueren Hinsehen Schranken aufweisen.
Carolin Fischer zieht zur Illustration das Beispiel von Schrebergärten heran. «Schrebergärten sind von ihrem Grundgedanken her offen und inklusiv. Wenn Nutzer*innen ihre Parzelle jedoch mit einem Zaun oder einer Hecke eingrenzen, dann verändert sich der Charakter der Anlage. Sie wird abweisend und ausschliessend.»
Vielfältiges Quartier für alle
Was für den Schrebergarten gilt, trifft auch auf Wohnquartiere zu. Wie lassen sich möglichst breite Kreise einer diversen Bevölkerung in die Gestaltung des Quartierlebens einbeziehen? Das BFH-Forschungsprojekt «Vielfältiges Quartier für alle» erprobt neue Ansätze, um in Bern West interessierten Menschen aus allen sozialen Schichten die Möglichkeit zu geben, das Quartierleben zu prägen und daran teilzunehmen. Dabei setzen die Forschenden auf eine enge Zusammenarbeit mit der Bevölkerung und Fachpersonen der Gemeinwesenarbeit. Gesamthaft sieht das Projekt fünf so genannte Interventionen vor, drei sind bereits abgeschlossen.
Als symbolischer und hörbarer Auftakt wurde das Liederrepertoire des Glockenturms im Tscharnergut erweitert. Absicht dieser ersten Intervention war, ein kulturelles Symbol im Stadtteil der breiten heterogenen Quartierbevölkerung zugänglicher zu machen. Die Intervention sollte die Möglichkeit eröffnen, neben traditionellen lokalen und schweizerischen Liedern auch internationale Melodien aufzunehmen und so der Vielfalt im Stadtteil eine Stimme zu verleihen. Heute umfasst das Liederrepertoire zahlreiche neue Melodien.
Forschungsprojekte zu Caring Spaces
Die BFH führt verschiedenste Forschungsprojekte rund um das Thema Caring Spaces durch. Eine Auswahl:
Urban Future Lab: In einem leerstehenden Bürogebäude in Zollikofen soll bis 2026 ein gemeinschaftlicher Wohn-, Arbeits- und Lebensraum entstehen. Forschenden der BFH dient das «Urbane Dorf Webergut» als Reallabor. Gemeinsam mit den Bewohner*innen werden nachhaltige Wohn- und Ernährungskonzepte erarbeitet.
In meinen Augen: Mit Quartierspaziergängen und Interviews dokumentiert das Projekt die nähere Wohnumgebung älterer Menschen fotografisch und sammelt Aussagen der Teilnehmenden dazu. Die Fotoplakate präsentieren das Erfahrungswissen dieser Bevölkerungsgruppe und sollen den Diskurs über altersgerechte Wohnumgebungen anregen.
Von Segregation zu Inklusion: Das Projekt soll dazu beitragen, inklusive Siedlungsräume im Kontext von kollektiven Unterkünften für geflüchtete Menschen zu schaffen. Die Räume sollen die Bedürfnisse geflüchteter Personen stärker berücksichtigen, die Trennung von der Bevölkerung reduzieren und dadurch das Zusammenleben verbessern.
Bei der zweiten Intervention ging es darum, mehr Begegnungsorte und -möglichkeiten in Untermatt zu schaffen, einem Quartier mit wenig Freiflächen und öffentlichen Räumen. Das Projektteam machte im Rahmen des jährlichen Quartierfests auf Gestaltungsmöglichkeiten von öffentlichen Räumen aufmerksam und holte in Gesprächen die Erwartungen der Bewohner*innen an Begegnungsorte ab. Eine Arbeitsgruppe entwickelt gestützt darauf und in Begleitung der BFH weitere Aktionen, um dem Thema Begegnung im Stadtteil mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Die dritte Intervention hatte zum Ziel, die Arbeit zugunsten von Fürsorge und sozialem Zusammenhalt im Quartier sichtbar zu machen. Deren Bedeutung wurde am Beispiel von Spielgruppenleiter*innen gezeigt. Sie leisten neben ihrer pädagogischen Aufgabe einen wichtigen Beitrag, um Familien in teilweise prekären Lebenslagen zu unterstützen. Sichtbar gemacht wurde dies mit Porträts der Spielgruppen, die der Bevölkerung Fakten und Wissenswertes über diese Care-Arbeit vermittelten. Zu diesem Zweck entstand unter anderem ein witterungsfestes Miniatur-Häuschen aus Faltplakaten, in dem Audioaufnahmen der Leiter*innen zu hören sind.
Resonanz erfahren und Räume geöffnet
Die Forschenden ziehen eine positive Zwischenbilanz zum Projekt: «Es hat sich gezeigt, dass die Frage der Öffnung und Erweiterung von Beteiligungsmöglichkeiten in einem von Diversität geprägten Stadtteil auf einen spürbaren Bedarf trifft», erklärt Studienleiterin Simone Gäumann. «Die Interventionen bringen vielfältige Resonanz hervor und haben durch ihre niederschwellige und sinnlich ansprechende Form das Potenzial, einen Raum für Dialog zu schaffen.»
Sie würden auch helfen, Beteiligungsmöglichkeiten für alle zu öffnen, ergänzt Simone Gäumann. «Die Interventionen regen Diskussionen an über neue Formen des sozialen Miteinanders und sie stärken die Selbstbestimmung der Beteiligten, da die Aktivitäten neue Artikulations- und Begegnungsräume schaffen.» Caring Spaces können also nicht nur physische, sondern auch mentale Räume öffnen und dadurch Solidarität, Inklusion und Fürsorge stärken.