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Ein prägendes Studiensemester in Ghana

08.04.2025 Während seines Master-Studiums entschied sich Tobias Minder für ein Austauschsemester an der University of Ghana in Accra. Diese Zeit hat nicht nur sein Verständnis für Soziale Arbeit im globalen Süden geprägt, sondern schärfte auch seinen Blick auf gesellschaftliche Strukturen und Privilegien.

Das Wichtigste in Kürze

  • Soziale Arbeit im globalen Süden: Das Studium an der University of Ghana bot Master-Student Tobias Minder neue Perspektiven auf die Soziale Arbeit unter anderen gesellschaftlichen und strukturellen Bedingungen. 

  • Interkultureller Austausch: Durch Reisen und Knüpfen von persönlichen Kontakten gewann Minder tiefe Einblicke in die Lebensrealitäten ausserhalb des Campusgeländes. So baute er nachhaltige Beziehungen auf.

  • Reflexion über Privilegien und Kolonialgeschichte: Seine Auseinandersetzung mit Kolonialismus, Rassismus und sozialen Ungleichheiten schärfte sein Bewusstsein für globale Zusammenhänge und eigene Privilegien.

Ghana – ein Staat im Westen Afrikas: Wie sind Sie darauf gekommen, dort ein Semester zu studieren?

Tobias Minder: Die Möglichkeit, ein Auslandssemester zu absolvieren, hat mich besonders motiviert, mich für den Master-Studiengang zu bewerben. Ich wollte neue Perspektiven auf das Feld der Sozialen Arbeit gewinnen, insbesondere im Kontext des globalen Südens, in dem Soziale Arbeit mit anderen strukturellen, gesellschaftlichen und historischen Bedingungen konfrontiert ist als in der Schweiz. Auf der Suche nach geeigneten Universitäten stiess ich zufällig auf Ghana. Mit Google Maps suchte ich nach Universitäten auf dem afrikanischen Kontinent, die in englischer Sprache unterrichten. Eine Markierung führte mich zur ‚University of Ghana‘ in Legon. Im Austausch mit dem ehemaligen Studiengangsleiter des Masters in Bern bestätigte sich mein positiver Eindruck dieser Universität durch seinen persönlichen Bezug zu Ghana. Dankbar nahm ich die Möglichkeit an, ein Semester dort zu studieren.

Tobias Minder

Tobias Minder ist Master-Student in Sozialer Arbeit im vierten Semester. Von Anfang April bis Mitte September 2024 war er in Ghana, wo er an der University of Ghana in der Hauptstadt Accra ein Studiensemester absolvierte.

„Face the Wall“ mit Erdnusssuppe – mein ghanaisches Soulfood
„Face the Wall“ mit Erdnusssuppe – mein ghanaisches Soulfood

Wie haben Sie sich auf den Austausch vorbereitet?

Da die Berner Fachhochschule BFH und die University of Ghana kein Partnerschaftsabkommen haben, war es an mir, als Freemover die notwendigen Formalitäten zu organisieren. Neben den organisatorischen Vorbereitungen für den Austausch habe ich mich mit Personen vernetzt, die das Land bereits besucht haben oder dort leben. Dies half mir vor allem unter anderem bei den medizinischen Vorbereitungen bezüglich Malaria.

Und wie war Ihr Start in diesem fremden Land?

In den ersten vier Wochen hatte ich das Privileg, durch Reisen im Land erste Eindrücke zu sammeln. Das Kennenlernen von Land und Leuten hat mir den Start erleichtert.

Es hat mich berührt zu erleben, dass die Herausforderungen in der Sozialen Arbeit anders sind, die dazugehörige Wertebasis jedoch dieselbe ist.

  • Tobias Minder Master-Student

Mit welchen Studieninhalten haben Sie sich auseinandergesetzt? Was war dabei am beeindruckendsten?

Ich habe insgesamt drei Module belegt. Ein Soziologiemodul, das sich mit der Urbanisierung in Ghana und deren Auswirkungen auf Migrationsströme beschäftigte. Im Department of Social Work habe ich das Modul ‚Human Resource Development‘ belegt. Warum sind Aus- und Weiterbildung wichtig, was macht eine gute Führungskraft aus und wie kann man sicherstellen, dass Gelder nicht versickern. Letzteres ist in Ghana leider ein Problem: die so genannten ‚Ghost Workers‘, die von einer Firma noch bezahlt werden, aber gar nicht dort arbeiten.

Das intensivste, aber für mich persönlich auch spannendste Modul war ‚Gender, Culture and Development‘. Eine Dozentin, die sich selbst als Feministin versteht, fragte zu Beginn des Moduls in die Klasse mit ca. 13 Student*innen, wer sich als Feminist*in bezeichnen würde. Nur sehr wenige Hände gingen nach oben. Das Modul beleuchtete einerseits die Geschichte des Feminismus mit ihren verschiedenen Wellen. Da diese dokumentierte Geschichte nicht auf dem afrikanischen Kontinent stattgefunden hat, ist der Bezug zur lokalen Kultur zentral. Vorurteile, was Feminismus nicht ist und warum eine gleichberechtigte Gesellschaft im Kleinen wie im Grossen zentral ist, wurden thematisiert. Zum Beispiel, dass vor allem Frauen und weiblich gelesene Personen den Grossteil unbezahlter Care-Arbeit leisten und nur rund 15 Prozent im Parlament weiblich sind. Diese Dozentin setzt sich mit viel Herzblut und Engagement für eine gerechtere Gesellschaft ein. Als sie während des Semesters noch einmal in die Runde fragte, wer sich als Feminist*in bezeichnet, waren deutlich mehr Hände in der Luft. Das war einer meiner Höhepunkte in Legon.

Alltagstreiben auf der Strasse
Alltagstreiben auf der Strasse
Spielplatz im Kinderheim von Bolgatanga im nördlichen Ghana
Spielplatz im Kinderheim von Bolgatanga im nördlichen Ghana

Wie haben Sie den Austausch mit der einheimischen Bevölkerung erlebt? Gelang es Ihnen, Kontakte aufzubauen ausserhalb der Universität?

Viele Menschen sind offen und interessiert an Personen aus anderen Kulturkreisen. So kommt man einfach in Kontakt mit der Lokalbevölkerung. Nicht selten wird man auf offener Strasse gefragt, ob man befreundet sein möchte – ohne diese Person zu kennen oder überhaupt je gesehen zu haben. Das war für mich ungewohnt.

Beim Reisen konnte ich Bekanntschaften schliessen und mit Personen aus meiner Studienklasse Freundschaften eingehen. Sie haben mich mit Menschen ausserhalb des privilegierten Campus-Lebens vernetzt, um Einblicke in verschiedene Lebensrealitäten zu gewinnen, die mir sonst verborgen geblieben wären.

Am Ende des Semesters lud mich ein Studienfreund zu sich nach Hause in den Norden Ghanas ein. Er arbeitet dort in einem Kinderheim, das sich um Kinder kümmert, die aufgrund von Vorurteilen oder sozialer Ausgrenzung Schutz benötigen – unter anderem, weil ihnen etwa im Zusammenhang mit Behinderungen problematische Zuschreibungen gemacht wurden.

Rückblickend: Was nehmen Sie aus dieser Zeit mit? Was hat Sie geprägt und warum würden Sie anderen Studierenden ein Austauschsemester im Ausland empfehlen?

Ich empfinde grosse Dankbarkeit für die Möglichkeit, diese Erfahrung gemacht haben zu dürfen. Zudem nehme ich die Privilegien, welche mir unverschuldet zustehen demütig an und versuche einen bewussten Umgang damit zu haben. Es hat mich berührt zu erleben, dass die Herausforderungen in der Sozialen Arbeit anders sind, die dazugehörige Wertebasis jedoch dieselbe ist.

Die Auseinandersetzung mit der schwierigen Geschichte des Landes, mit der Kolonialisierung und dem verbundenen Sklavenhandel ist intensiv. Wie sehr diese kolonialen Strukturen weiter existieren, wie dies die Lokalbevölkerung betrifft und welche Rolle die westliche Welt dabei spielt, wurde mir im Austausch mit der einheimischen Bevölkerung vor Augen geführt. Die gleichzeitige Auseinandersetzung mit Literatur gab mir ein neues Bewusstheitsgefühl für eine Themenvielfalt, die bei uns nicht prioritär thematisiert wird.

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