Keine Frage: Wir brauchen hochqualifizierte Hebammen

05.10.2022 Ein Kommentar von Prof. Dr. Eva Cignacco Müller, Co-Fachbereichsleiterin Geburtshilfe am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule, zum Hebammenstudium.

Ich werde oft gefragt, wozu Hebammen ein Studium auf Masterniveau benötigen. Die Frage hält sich hartnäckig, auch Berufskolleginnen stellen sie regelmässig. Es scheint, als ob dem Mastertitel für Sommeliers mit einem grösseren Verständnis begegnet wird als dem Master für eine Profession, die für Sicherheit und Qualität in der geburtshilflichen Versorgung steht. Mag sein, dass in einem geschlechtersegregierten Beruf die akademische Bildung von Frauen einen schweren Stand hat. Mag aber auch sein, dass sich Hebammen mit ihrer Orientierung an der «Natürlichkeit der Geburt» und dem Hang zum tradierten Hebammenwissen selbst im Wege stehen. Entwicklungen in der geburtshilflichen Versorgung sollten uns aufhorchen lassen: In Grossbritannien erhöht sich der Anteil Schwangerer mit einer chronischen Vorerkrankung stetig. Mittlerweile sind 54 % der Todesfälle bei schwangeren Frauen den chronischen Erkrankungen geschuldet. Bekannt ist, dass diese Frauen durch die Maschen der Gesundheitsversorgung fallen, denn es fehlt an spezialisierten Versorgungskonzepten. Die gesundheitliche Ungleichheit im Kontext der Migration sollte uns ebenso zum Nachdenken anregen. Asylsuchende Frauen erzielen in ihren europäischen Aufnahmeländern schlechtere perinatale Outcomes als einheimische Frauen.

«Schauen Sie einer Advanced Practice Midwife einen Tag lang über die Schultern, und Sie werden rasch verstehen, warum wir diese hochqualifizierten Hebammen dringend benötigen.»


Die Berufskonferenz Hebammen, ein Fachgremium der nationalen Fachkonferenz Gesundheit, hat aufgrund einer Analyse der Literatur den Bedarf an neuen perinatalen Versorgungsmodellen und Rollen für Hebammen auch für die Schweiz erkannt. Sie entwickelte jüngst ein nationales Positionspapier zum Thema «Advanced Midwifery Practice» (AMP) in der Schweiz. AMP stellt einen erweiterten und spezialisierten Handlungsbereich dar, in dem Hebammen mit einem Master of Science agieren. Diese Hebammen weisen eine Spezialisierung auf, beraten und betreuen Betroffene in Eigenverantwortung. Voraussetzung für eine Rolle als Advanced Practice Midwife sind mindestens 5500 Stunden Berufserfahrung als BSc Hebamme, ein Master-Studium, das mit mindestens 1200 Stunden Forschungstraining punktet, und das Vorweisen einer Fachspezialisierung mit einer direkten klinischen Tätigkeit im Umfang von mindestens 30 %. Das Positionspapier ist ein Meilenstein bei der Diskussion über die Notwendigkeit der akademischen Weiterbildung von Hebammen auf Master- und Doktoratsstufe in der Schweiz.
Glücklicherweise gelingt es uns am Standort in Bern, die Zahl der Studentinnen im Master-Studiengang Hebamme Jahr um Jahr zu steigern. Wir nehmen bei Aufnahmeverfahren wahr, dass sich die Kandidatinnen eingestehen, mit ihrem Wissen und Können als BSc Hebammen an Grenzen zu stossen, die sie noch nicht differenziert benennen können, aber dennoch täglich erfahren. Das stimmt mich für die Zukunft des Master-Studiengangs Hebamme zuversichtlich. Fragen Sie mich also nicht mehr, wozu es einen Master of Science für Hebammen braucht. Schauen Sie einer Advanced Practice Midwife einen Tag lang über die Schultern, und Sie werden rasch verstehen, warum wir diese hochqualifizierten Hebammen dringend benötigen.

Eva Cignacco
Prof. Dr. Eva Cignacco Müller ist Co-Fachbereichsleiterin Geburtshilfe am Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule.

Fokus Gesundheit zum Thema Advanced Practice

Erweiterte Rollen in der Gesundheitsversorgung: Was braucht's und was bringt's?


Am Symposium Fokus Gesundheit sprechen wir mit Menschen aus der Praxis, Gesundheitspolitiker*innen wie auch Behördemitgliedern über die Advanced-Practice-Rollen: Was bringen sie und was braucht es für ihre Implementierung?

01.12.2022, 17.30–19.30 Uhr – National Bern (Theatersaal), Hirschengraben 24, 3011 Bern

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Gesundheitsmagazin «frequenz»

Dieser Beitrag ist Teil der September-Ausgabe 2022 unseres Magazins «frequenz».

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