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Aufwachsen im Wartezimmer – Wie Kinder und Jugendliche ihre Unterbringung in Schweizer Asylunterkünften erleben
02.11.2023 Wir wissen bisher wenig über das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in Asylunterkünften. Für die BFH-Dozentin Clara Bombach ist es an der Zeit, mit ihrer Dissertation die Erfahrungen und Bedürfnisse von begleiteten Minderjährigen in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion sichtbar zu machen.
Frau Bombach, wie sind Sie auf das Thema Ihrer Dissertation gestossen?
Clara Bombach: Ich habe in Projekten gearbeitet, welche die Fremdplatzierung in der Schweiz aufgearbeitet haben. So habe ich viele Menschen kennengelernt, die bis 1981 von sogenannten Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen waren. In den biographischen Interviews beschrieben die ehemaligen Heimkinder, wie isoliert und fremdbestimmt sie aufgewachsen sind. Das hat bei den Menschen Spuren hinterlassen, die enorm nachwirken – nicht nur auf die Person, sondern auch auf ihre Beziehungen und auch darauf wie sie mit ihren eigenen Kindern umgingen. Ihr Erleben hatte also Auswirkungen über Generationen hinweg.
Seitdem hat sich im Kindesschutz viel getan und die Schweiz ist dabei, die Geschichte der Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bis 1981 aufzuarbeiten. Aber das Asylwesen ist von diesen Erkenntnissen weitgehend ausgenommen. Bislang wird nur vereinzelt untersucht, wo vergleichbare Bedingungen heute noch existieren. Da setzt meine Studie an: Während meiner Forschungszeit waren nach meinen Berechnungen über 90 Prozent der asylsuchenden Minderjährigen von Eltern, Elternteilen, Verwandten oder anderen Erwachsenen begleitet. Bei ihnen geht man offenbar, anders als bei den unbegleiteten Minderjährigen, davon aus, sie seien durch ihr familiäres Umfeld unterstützt und geschützt. Doch dort, wo sie bis zu mehrere Jahre untergebracht werden, arbeiten häufig keine Fachkräfte, die Kinder begleiten und unterstützen können. Es fehlt an kindgerechten Angeboten. Da wollte ich hinschauen und wissenschaftlich untersuchen, wie der Lebensalltag für die begleiteten Minderjährigen ist.
Warum ist es wichtig, das Thema zu erforschen?
In der Schweiz werden Menschen, deren Asylverfahren noch läuft, zumeist in Asylunterkünften untergebracht. Sie müssen dortbleiben und sich, wie es das Asylgesetz verlangt, «zur Verfügung halten». Also ist es die Verantwortung des Bundes beziehungsweise der Kantone, dort für Bedingungen zu sorgen, die ein gutes Aufwachsen der Kinder ermöglicht. Denn 1997 hat die Schweiz die UNO-Kinderrechtskonvention ratifiziert – die Kinderrechte gelten für alle Minderjährigen in der Schweiz, auch für jene mit ungeklärtem Aufenthalt. Schutz, Versorgung und Partizipation sind als Grundsätze in der Kinderrechtskonvention verankert, sie sind als übergeordnete Werte für ein gesundes Aufwachsen aller Minderjährigen definiert.
Wie muss man sich die Situation der Kinder und Jugendlichen in einer kantonalen Asylunterkunft vorstellen?
Nach der Unterbringung im Bundesasylzentrum werden die Familien bis zum Asylentscheid auf die Kantone verteilt. Diese sind frei, wie sie die Unterbringung gestalten. Es gibt keine Mindeststandards, die unabhängig überprüft werden. Nach meinen Berechnungen wurden 2019 und 2020 zirka 40 Prozent der Asylsuchenden in der Schweiz geboren. Tatsächlich sind sehr viele junge Kinder vor Ort. Die Datenlage ist aber ungenau. Es ist nicht bekannt, wie viele und wie lange Kinder in den Unterkünften untergebracht sind oder wie häufig sie diese wechseln. Vor Ort gibt es häufig schlechte hygienischen Bedingungen, Enge, Lärm, kaum Privatsphäre, geschlechtsgemischte Badezimmer, keine Wickeltische, der Zustand der umgenutzten Gebäude ist marode, insgesamt sehr prekäre Bedingungen. Es fehlen Rückzugsorte. Die Kinder suchen kreativ nach Lösungen. Sie sagen, «hier oben auf dem Doppelstockbett ist mein Platz». Oder: »Hinter dem Vorhang kann ich in Ruhe spielen.»
Um die Situation für die Kinder und Jugendlichen konkret zu beschreiben: Ekel ist ein grosses Thema. Viele Kinder fangen wieder an, sich in der Nacht einzunässen, weil sie Angst haben, auf die Gemeinschaftstoiletten zu gehen. Die Kinder und Jugendlichen sagen in aller Deutlichkeit, wie sehr sie die Unterkunft «hassen». Sie sprechen übrigens nicht von einer Asylunterkunft oder dem Integrationszentrum, sondern vom «Camp».
Es ist eine bedrückende Atmosphäre, die ich selbst während zwölf Monaten Forschung dort erfahren habe. Es war nicht einfach, sich so nah und auch über so eine lange Zeit zu konfrontieren. Als Forscherin war ich einerseits ganz nah dran, habe ich mich aber auch immer wieder distanzieren müssen. Dazu hatte ich auch Supervision. Das war sehr hilfreich.
Da Sie ihre eigene Rolle ansprechen: Was war Ihr wissenschaftlicher Ansatz?
Der ethnographische Erkenntnisstil wird häufig als «Entdecken» beschrieben. So wie es der Ethnologe Clifford Geertz vorschlägt, begann ich bewusst mit der sehr offenen Frage: «What the hell is going on?». Ich habe den Alltag teilnehmend beobachtet und war ganz nah dran an den Menschen in der kantonalen Asylunterkunft.
Wie sind Sie bei den Untersuchungen vorgegangen?
Der Vertrauensaufbau mit den Studienteilnehmer*innen war ein langwieriger Prozess. Die Familien in der Unterkunft waren besorgt, dass eine Teilnahme ihre Asylverfahren negativ beeinflussen könnte. Ich wurde am Anfang immer wieder mit der Frage begrüsst: «Machen Sie Kontrolle?» Daher habe ich mir für die Datenerhebung Zeit genommen und verschiedene Methoden kombiniert. Neben der teilnehmenden Beobachtung waren ero-epische Gespräche ein sehr guter Zugang. Dies sind Gespräche, die einfach so entstehen und die genauso aber auch wieder abbrechen können. Die Kinder setzen ihre eigenen Schwerpunkte. Sie haben auch gerne gezeichnet.
In diesem Setting habe ich die Daten erhoben und Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle sowie Zeichnungen analysiert. Damit konnte ich Themen herausarbeiten, die nicht nur für den Einzelfall stehen, sondern die Erfahrungen der Kinder in den Asylunterkünften verbinden und Ausdruck der Bedingungen sind, mit denen sie sich vor Ort auseinandersetzen. Deshalb ist es nicht relevant, in welchem Kanton ich geforscht habe. Der aktuelle Forschungsstand (oder hier A.d.R.) unterstützt meine Ergebnisse: Meine Beobachtungen sind Ausdruck des fremdbestimmten Wartezustands in einem nicht kindgerechten Raum, in welchem sich Familien «zur Verfügung halten» müssen.
Was sind weitere Befunde?
Die Studie zeigt, dass sich Kinder und Jugendliche in den Unterkünften unwohl und unsicher fühlen. Ich habe schon die bedrückende Atmosphäre des Ekels, fehlender Privatsphäre und Angst beschrieben. Weitere wichtige Befunde sind die Belastungen durch das Verharren in der Warteposition, Fremdbestimmung und Isolation in ihrem Leben bis hin zur überfordernden Rollenumkehr zwischen Kind und Eltern.
«Wenn es dann zum Beispiel beim Asylantrag nicht vorangeht, haben die Kinder das Gefühl, es könne ja auch ein bisschen an ihnen liegen.»
Sehr eindrücklich war beispielsweise, dass die Kinder ungern die Unterkunft zeichneten. Ihre Traumhäuser haben sie hingegen oft gemalt. Sie berichten von dem Gefühl, dass sie auf ihr «normales Leben» nach dem Asylverfahren warten. Ihre Vorstellung von einem guten Leben sind recht bescheiden. Sie wünschen sich Privatsphäre, Ruhe und saubere Toiletten. Viele Kinder können sich an ein «Vorher» nicht erinnern, sie kennen nur das Camp als ihren Ort des Aufwachsens, an dem sie eigentlich nicht leben wollen.
Die Unterkunft ist für die Minderjährigen ein fremdbestimmter und von Erwachsenen kontrollierter Raum. Das vorhandene Spielzimmer beispielsweise war in meinem Beobachtungszeitraum nur selten geöffnet. Und wenn, legten die Erwachsenen die Öffnungszeiten fest, die aber gar nicht zum Rhythmus der Kinder passten.
Zu den Mitarbeiter*innen in den Unterkünften haben die Kinder wenig Vertrauen. Sie nennen sie «Chefs». Alle Platzierten fühlen sich abhängig von den »Chefs», die für Vieles zuständig sind. Sie vermitteln Arztbesuche, machen Geldauszahlungen, setzen die Regeln und sind auch für Sanktionen zuständig. Und weil es für die Platzierten nicht klar ist, wer den Asylentscheid trifft, vermuten alle, dass die «Chefs» damit was zu tun haben müssen. Denn die betreffende Post erhalten sie ja auch von ihnen.
Ein wichtiger Befund ist auch die Isolation. Die Kinder und Jugendlichen fühlen sich von der Aussenwelt abgeschnitten. Sie unterscheiden die Welt im Camp von der ausserhalb liegenden Schweiz. Besonders isoliert sind Kleinkinder von alleinerziehenden Müttern. Die verlassen ihre Zimmer kaum. Wenn die Mütter aufs WC oder in die Etagenküche gehen, um etwas zu kochen, schliessen sie ihre Kinder manchmal in den Zimmern ein. Jugendliche dagegen versuchen, so häufig wie möglich die Unterkunft zu verlassen.
Es leben dort zum Teil sehr belastete Menschen auf engstem Raum. Es gibt Eltern, die reden vor ihren Kindern von Suizid. Andere äussern sich traurig und frustriert über die Bedingungen im Camp und darüber, dass sie nicht wissen, wie es weitergeht. Die Kinder und Jugendlichen kümmern sich generell sehr um ihre Eltern. Sie versuchen sie aufzumuntern. Sie helfen ihnen bei den Hausaufgaben, weil sie meist besser Deutsch sprechen. Die Kinder fragen die «Chefs» nach Medikamenten für die Eltern, gehen mit ihren Müttern zum Frauenarzt und übersetzen bei Amtsgängen. Das ist auch eine grosse Belastung für die Kinder. Wenn es dann zum Beispiel beim Asylantrag nicht vorangeht, haben sie das Gefühl, es könne ja auch ein bisschen an ihnen liegen. Dasselbe Gefühl entsteht, wenn sich Eltern nicht aufmuntern lassen. Manche Kinder versuchen deshalb, ihren Eltern aus dem Weg zu gehen. Das ist im Camp allerdings kaum möglich. Dort, wo ich geforscht habe, lebten auf 26 Zimmern bis zu 80 Menschen. Je eine Familie in einem Zimmer, bis zu neun Personen gleichzeitig.
«Es ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern auch eine Investition in die Zukunft dieser jungen Menschen und damit auch eine Investition in die Schweiz.»
Sie sagen, der Staat hat hier eine Verantwortung. Wie begründet sich diese und was hat das mit Ihrer Forschung zu tun?
Das Aufwachsen der Kinder ist entscheidend von ihrem ungeklärten Aufenthaltsstatus geprägt, was ihr Leben unsicher und prekär gestaltet. Diese Form der Unterbringung ist gesetzlich so vorgesehen, doch die Kinder werden durch die Camps und die Transfers vulnerabler. Ihre Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Orientierung oder Kontrolle werden in den Camps kaum berücksichtigt. Das gefährdet ihre psychische Gesundheit und verhindert ihre Integration. Regelmässig prüft die UNO, wie die Schweiz die Kinderrechte umsetzt. Leider wird sie immer wieder gerügt, dass ihre Leistungen nicht ausreichen, vor allem im Hinblick auf geflüchtete Kinder.
Lassen Sie mich das mit einem Beispiel illustrieren: Während die kindgerechte Gestaltung von Übergängen in der Kinder- und Jugendhilfe und auch im Schulkontext als fester Bestandteil betrachtet und umgesetzt wird, sind Minderjährige im Camp aufgefordert, von heute auf morgen ihre Sachen zu packen und sich in ein Auto zu setzen, dessen Ziel sie nicht kennen. Diese mehrfach erlebten Transfers, ignorieren ihre Verletzbarkeit, die durch die Fremdbestimmung und Ohnmachtserfahrung verstärkt wird.
Meine Studie ist ein dringender Appell, die Lebensbedingungen dieser Kinder und Jugendlichen zu verbessern. Es ist nicht nur eine Frage der Menschlichkeit, sondern auch eine Investition in die Zukunft dieser jungen Menschen und damit auch eine Investition in die Schweiz. Denn die Kinder und Jugendlichen, die an der Studie teilgenommen haben und die bis heute mit mir Kontakt haben, leben auch heute noch hier.
Zur Dissertation
Clara Bombach hat ihre Dissertation «Warten auf Transfer. Kinder(er)leben im Nicht‐Ort Camp» am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich erfolgreich abgeschlossen. Sie hat zwischen Juli 2019 und Juli 2020 den Lebensalltag von Kindern in einer qualitativ angelegten Studie in einer kantonalen Asylunterkunft beforscht. An der Studie haben 44 Kinder aus 20 Familien teilgenommen. Manche Kinder waren gerade erst im Camp platziert worden, andere warteten seit sechs Jahren auf einen Asylentscheid und teilten Bett und Zimmer mit ihren Eltern. Die Dissertation können Sie auf der Seite der Universität Zürich herunterladen.