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Migräne, Schwindel, Kieferschmerzen: Komplexe Symptome strukturiert behandeln
14.02.2023 Im September 2023 findet an der Berner Fachhochschule erstmalig ein CAS statt, der Physiotherapeut*innen zu Spezialist*innen für craniocervicale Dysfunktionen ausbildet. Heike Kubat, Physiotherapeutin und Studienleiterin, hat die Weiterbildung mitentwickelt und ist Teil des interdisziplinären Dozierenden-Teams.
«Mehr als jede zehnte in der Schweiz lebende Person hat im letzten Jahr mindestens einen Migränetag erlebt und es wird geschätzt, dass jeder Vierte mindestens eine Migräneattacke im Lauf seines Lebens erleidet. Es gibt einige hundert verschiedene Kopfschmerz- und Schwindelarten», erklärt Physiotherapeutin Heike Kubat im Gespräch.
Ziel des neuen CAS sei es, diese Arten differenzieren zu können und Symptomatiken wie Tinnitus, Schluckbeschwerden, Gleichgewichtsstörungen zuordnen zu können. In einem weiteren Schritt werden Krankheitsbilder wie z.B. das Schleudertrauma thematisiert sowie die Systembereiche, die für die Symptome verantwortlich sein können. Einmal ist die Halswirbelsäule die Ursache, in anderen Fällen das Kiefergelenk, der Gleichgewichtsapparat, die Augen oder der Bewegungsapparat. Allen Patient*innen gerecht zu werden, brauche ein weit gefächertes Wissen. «Das war der Grund, weshalb wir diesen CAS aufgebaut haben: Wir wollen, dass man nicht nur über Schwindel oder nur über Migräne redet, sondern dass diese Bereiche zusammengeführt werden.»
Handlungsbedarf auf vielen Ebenen
Dass es die Spezialisierung braucht, zeigte sich durch Rückmeldungen aus Weiterbildung und Praxis – Studierende, die nach einem «Mehr» an Informationen fragen und Praktizierende, die sich in gewissen Situationen alleine gelassen oder überfordert fühlen.
Kubat: «Täglich erlebe ich Patient*innen, die sagen: ‹Ich komme jetzt zu Ihnen, weil ich gehört habe, dass Sie Spezialistin sind. Ich war davor schon bei x Therapeuten›.» Häufig werden diese Beschwerdebilder auch psychischen Problemen zugeordnet, ohne eine vollumfängliche, physische Untersuchung durchgeführt zu haben. Ein Umstand, den Heike Kubat für sehr problematisch hält. Eine sorgfältige Abklärung sei zwingend, um alle Systembereiche zu berücksichtigen. Dass eine psychologische Fachperson hinzugezogen werde, könne je nach Fall sinnvoll sein. «Aber wir sind dennoch vor allem für den strukturellen Bereich zuständig. Und wenn wir physisch eine Verbesserung erzielen, sind die Betroffenen auch psychisch weniger belastet.»
Gezielt abklären und Betroffene sichtbar machen
Die Teilnehmenden lernen, in diesem Symptomkomplex Ordnung zu schaffen durch stringente Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten. Der CAS bietet dafür eine Testbatterie. Mithilfe von Assessmentbögen wird eine systematische Untersuchung möglich gemacht. Dem häufigen Problem, zu wenig Zeit für eine ausführliche Diagnostik zu haben, wird somit entgegengewirkt. «Im Unterricht arbeiten wir mit Fallbeispielen und gegenseitigen Supervisionen. Die entwickelten Befundbögen können die Kursteilnehmenden in die Praxis mitnehmen und sogleich einsetzen.» Diese begleiten durch die Anamnese und von einem Behandlungsschritt zum nächsten. Das Wissen aus dem CAS helfe auch dabei, gezielter Prognosen zu stellen, was für Patient*in und Therapeut*in sehr wichtig sein kann.
«Das Besondere am CAS ist, dass alle Symptomatiken zusammengefasst werden. Deswegen heisst die Spezialisierung ‹craniocervical›. Der Begriff ist auf den ersten Blick sperrig. Aber es geht darum, eine Betroffenengruppe zu benennen, die bisher vielleicht nicht ausreichend diagnostiziert wurde.» Es ist also auch ein Sichtbarkeitsthema. Dazu gesellt sich der Sicherheitsfaktor. Heike Kubat: «Schwindel oder Kopfschmerzen können Warnsignale sein. Im CAS lernen wir, diese zu erkennen. Hat der Patient Kopfschmerzen wegen eines Bluthochdrucks, oder weil er ein vaskuläres Ereignis hat? Im Hinblick darauf, dass Physiotherapeut*innen zukünftig eventuell einen Direct Access haben, ist dies umso wichtiger.»
Spezialisierung als Aushängeschild
Das komplexe Thema lässt vermuten, dass es ohne eine fachinterne und interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht funktionieren kann. Dieser Aspekt war den Entwickler*innen des CAS besonders wichtig: «Das Dozierenden-Team besteht aus Physiotherapeut*innen mit verschiedenen Spezialisierungen (Manuelle Therapie OMT, CMD, Neurologie), einem Osteopathen und einer Pharmakologin. Alle sind in der Praxis tätig. Diese Mischung aus Forschung und Praxis im Dialog ist besonders hervorzuheben.»
Bei solch vielfältigen Krankheitsbildern bzw. Syndromen komme es häufig vor, dass verschiedene Behandler und Therapieformen involviert sind. Diese gilt es zu koordinieren und die Patient*innen kompetent zu beraten. Heike Kubat: «Schlussendlich können aber nur wir Physiotherapeut*innen die Betroffenen wieder fit kriegen. Denn wir untersuchen sie, trainieren mit ihnen und arbeiten aktiv an ihrer Belastbarkeit.» Ein interessantes Plus des CAS sei auch, dass man nach dem Abschluss als Spezialist*in auf der Liste der Kopftherapeuten.ch aufgenommen werde. Die Spezialisierung sei ein Aushängeschild für die Physiotherapeut*in selbst, für die Praxis/den Betrieb – und für das Berufsbild.
Begriff Craniocervicale Dysfunktionen
Unter dem Begriff «Craniocervicale Dysfunktionen» werden Symptome und Funktionsstörungen der craniocervicalen und craniomandibulären Region zusammengefasst. «Cranio» steht für Kopf und «cervical» für Halswirbelsäule, «craniomandibulär» fasst den Kiefergelenksbereich zusammen. Die Funktionsstörungen können zu Kopfschmerzen, Migräne, Schwindel, Schmerzen, Tinnitus und weiteren Symptomen oder Symptomkomplexen führen.
Heike Kubat im Kurzporträt
Heike Kubat (auf dem Foto in Aktion, 2. v. l.) hat eine manualtherapeutische Ausbildung auf OMT-Basis absolviert. Seit 15 Jahren spezialisiert sie sich auf die craniocervicale Region. Bereits ihre Masterarbeit hat Heike Kubat über das Thema Kopfschmerz geschrieben. Sie arbeitet 60 Prozent in ihrer Praxis Movecenter Feldmeilen und ist aktiv in der Fachgruppe «Kopftherapeuten» und bei der Patient*innenorganisation «Migraine Action». Daneben ist sie als Dozentin an der BFH tätig, gibt In-House-Schulungen und Webinare und ist neuerdings auch Fachbuchautorin (siehe Link). Bei all diesen Tätigkeiten ist es Kubats Anliegen, Forschung und Praxis zu verbinden und die Thematik einer möglichst grossen und interdisziplinären Gruppe zugänglich zu machen. Heike Kubats freiwilliges Engagement bei «Migraine Action» und «Kopftherapeuten» ist Teil ihres persönlichen Ziels: «Ich möchte einen Beitrag leisten für einen strukturierten Behandlungsvorgang und dass sich unsere Berufsgattung inmitten eines interdisziplinären Austauschs befindet, der auf Augenhöhe stattfindet. Je mehr Spezialist*innen es gibt, desto besser.»