Ozempic: Über die Wirkung des Medikaments und die Auswirkungen des Hypes auf den Praxisalltag

15.09.2023 «Wundermittel», «Abnehmspritze», «Lieferengpässe»: Das Medikament Ozempic® ist in aller Munde. Welche Bedeutung das Medikament für Menschen mit Diabetes und Adipositas und deren Therapie hat, geht dabei oft unter. Wir haben bei der Dozentin und Ernährungsfachperson Lucia Winzap nachgefragt.

Pen Semaglutid
Semaglutid: Eine Neuerung in der Diabetestherapie mit Adipositas, die für viel Gesprächsstoff sorgt. Bild: AdobeStock

Frau Winzap, was bewirkt Ozempic®?

Lucia Winzap: Ozempic® ist ein rezeptpflichtiges Medikament mit dem Wirkstoff Semaglutid. Es ist in der Schweiz in Form von wöchentlichen Injektionen für die lebenslang notwendige Behandlung von Diabetes mellitus Typ 2 mit starkem Übergewicht ab BMI 28 zugelassen. Die beste Massnahme für die Blutzuckerkontrolle bei Diabetes mellitus Typ 2 ist in den meisten Fällen eine Gewichtsreduktion, dort setzt dieses Medikament unter anderem an. 

Bei Betroffenen mit Diabetes mellitus Typ 2 und Adipositas ohne weitere relevante Herz- und Nierenerkrankungen ist Ozempic® heute nach Metformin das Medikament der Wahl. Die durchschnittliche Gewichtsreduktion bei Ozempic® liegt bei 15 Prozent nach einem Jahr. Zum Vergleich: Bei starkem Übergewicht ist eine Gewichtsreduktion von 5 bis 10 % allein durch Ernährungs- und Bewegungsmassnahmen realistisch. Mit einem bariatrischen Eingriff (Übergewichtschirurgie), der ebenfalls zur Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 vorgenommen wird, kann das Ausgangsgewicht um bis zu 25 % reduziert werden.

Wie erleben Sie den in den Medien beschriebenen Hype nach dem Medikament im Praxisalltag als Ernährungsberaterin? Ist Ozempic® ein grosses Thema?

Lucia Winzap: Die Nachfrage ist gross, und wir erleben in der Praxis oft Lieferengpässe, die Lieferungen wurden kontingentiert. Dazu kommt, dass Betroffene bei der Erstdiagnose Diabetes mellitus Typ 2 mit Übergewicht keine leitliniengerechte Therapie bekommen oder warten müssen. Lieferengpässe gibt es nicht nur bei Ozempic®, sondern auch bei Übergewichtsmedikamenten wie Saxenda®, Antibiotika und Blutdruckmittel usw. Das ist Alltag geworden. Möglichkeiten sind in diesen Fällen, je nach Schweregrad des Diabetes mellitus Typ 2, die Ernährungs- und Bewegungstherapie als Erstlinientherapie in den Fokus zu stellen, die Dosis zu reduzieren oder andere Medikamente einzusetzen. Für Betroffene, Ärzt*innen und Ernährungsfachpersonen oft eine schwierige Situation.

Gesundheitsfachpersonen und vor allem Betroffene mit Adipositas wissen, wie schwierig es ist, nachhaltig Gewicht zu reduzieren – insbesondere bei einem BMI über 30 bis 35.

Lucia Winzap Dozentin und Ernährungsfachperson

Wie beurteilen Sie das: Wird das Medikament leichtfertig eingesetzt?

Lucia Winzap: Leider geht die öffentliche Diskussion oft in die Richtung: «Braucht es denn ein Medikament, eine Operation? Könnte man nicht mit Verhaltensänderung das Gleiche erreichen?» Adipositas wird heute in einem medizinischen Kontext als chronische Krankheit verstanden. Sie wird mit einem multimodalen, multiprofessionellen Ansatz behandelt. Je nach Pathogenese und Schweregrad der Adipositas (assoziierte Folgeerkrankungen, psychische Symptome und funktionelle Einschränkung) wird individuell therapiert. Alle Leitlinien wie z. B. auch die Leitlinie der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) sehen Ernährungs- und Bewegungstherapie als sogenannte Erstlinientherapie vor. 

Gesundheitsfachpersonen und vor allem Betroffene mit Adipositas wissen, wie schwierig es ist, nachhaltig Gewicht zu reduzieren, insbesondere bei einem BMI über 30. Persönlich finde ich, dass im Bereich der Verhaltensänderung bei leichtem Übergewicht, wo wir gute Möglichkeiten haben, zu wenig versucht wird. Dagegen wird bei sehr starkem Übergewicht wie Adipositas zu sehr auf Lebensstiländerungen gesetzt, wo Interventionen wie Bewegung schwierig sind. Dies ist für Betroffene und Gesundheitsfachpersonen zermürbend.

Durch die Kontingentierung und die Lieferengpässe haben leichtfertige Verordnungen wie Verordnungen im Selbstzahlerbereich oder Off-Label-Verordnungen abgenommen.

Wird durch den Hype in den Medien die Diskussion erschwert?

Lucia Winzap: Ja, die weltweiten sozialen Medien beeinflussen die Wahrnehmung und die Vorstellung, wie Übergewicht/Adipositas behandelt werden soll. Praxen werden dadurch überrannt. Klinisch relevante Fragestellungen gehen oft unter oder bleiben unbeantwortet. Fragwürdige Berichterstattungen gibt es auch im Bereich der Selbstoptimierung bei Normalgewicht oder leichtem Übergewicht. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Schweregrad einer Erkrankung, der Therapie- und Medikamentenindikation wäre wünschenswert. Hier müssen Gesundheitsfachpersonen oft korrigierend eingreifen, indem sie solche Medien gemeinsam anschauen und Alternativen anbieten. Die dringliche und komplexe Behandlung der chronischen Erkrankung Adipositas in einem medizinischen Sinn wird verzerrt.

Wie nachhaltig ist die Therapie mit Ozempic®?

Lucia Winzap: Die Studienergebnisse sind eindeutig: Wenn man Ozempic® absetzt, nimmt man wieder zu. Übrigens auch wenn man in alte Verhaltensmuster zurückfällt, nimmt man wieder zu. Adipositas ist eine chronische Erkrankung, die zum alten Gewicht zurückkehren will. Hier findet wohl langsam ein Umdenken statt. Eine chronische Erkrankung braucht eine lebenslange Therapie.

Die Behandlung von Adipositas ist eine komplexe Herausforderung. Eine gute Behandlung erfordert einen multifaktoriellen, multiprofessionellen, personenzentrierten Ansatz mit einem individualisierten Therapieplan, der sehr unterschiedlich aussehen kann.

Es findet wohl langsam ein Umdenken statt: Eine chronische Erkrankung braucht eine lebenslange Therapie.

Lucia Winzap Dozentin und Ernährungsfachperson

Was sehen Sie für eine Entwicklung voraus?

Lucia Winzap: In Kürze wird die Zulassung von Wegovy®, Semaglutid als Wochenspritze, erwartet. Dieses Medikament kann bei Adipositas verschrieben werden, auch wenn kein Diabetes vorhanden ist. In weiterer Zukunft werden Kombinationspräparate und sogenannte Polyagonisten auf den Markt kommen, die zumindest bei Mäusen teilweise eine beeindruckende Gewichtsreduktion zeigen. Die Langzeitfolgen und -resultate sind noch nicht erforscht. Zum Beispiel ist nicht klar, ob jemand wie Elon Musk ein zweites oder drittes Mal von Ozempic® profitiert oder ob die Wirkung nachlässt.

Warum gilt der Wirkstoff Semaglutid als Game-Changer?

Lucia Winzap: Wirklich neu für uns Fachleute ist die Wirksamkeit dieser Medikamente, die es bisher in der Diabetestherapie mit Adipositas, ausser in der Bariatrie, nicht gab. Zusätzlich wirkt das Medikament auf das Hunger- und Sättigungsgefühl, indem es die Magenentleerung hemmt. Die Betroffenen haben dadurch ein besseres Sättigungsgefühl und weniger Heisshunger. Manche haben erstmals in ihrem Leben nicht mehr während 24 Stunden Hunger. Es hilft ihnen, ihre Ernährungsziele besser umzusetzen.

Eines ist klar: Auch mit diesen vielversprechenden Medikamenten bleiben Ernährungs- und Bewegungstherapie sowie gegebenenfalls ein Rauchstopp als Basistherapie unverzichtbar. Was mir persönlich Sorgen bereitet, ist der massive Ressourcenverbrauch bei der Pen- und Medikamentenherstellung und was das für die Umwelt bedeutet. Die Gefahr besteht, dass keine Ernährungs- und Bewegungstherapie verordnet wird und gleich Medikamente eingesetzt werden. Mich beunruhigt auch, dass Menschen, die nicht übergewichtig sind und nur ein paar Kilo abnehmen wollen, zu Medikamenten greifen.

Über Lucia Winzap

Lucia Winzap doziert seit 2020 an der Berner Fachhochschule im  Departement Gesundheit. Seit 2006 ist sie Co-Leiterin Ernährungstherapie und Diabetesfachberatung bei der Hirslanden Klinik St. Anna in Luzern.

Lucia Winzap

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