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Das Kernanliegen der Medizin (wieder) ins Zentrum rücken: die Zusammenarbeit mit den Patient*innen
28.08.2023 Michael Deppeler ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin in Zollikofen (BE). Sein Kernanliegen seit dem Medizinstudium: die Zusammenarbeit mit den Patient*innen. Obwohl dies während der Aus- und Weiterbildung immer schwieriger wurde, ist er seinem Kernanliegen treu geblieben. Im Interview erzählt Michael Deppeler, wie ihm dies gelingt.
Michael Deppeler, Sie leiten die Praxis «Salutomed» in Zollikofen. Das ist keine gewöhnliche Arztpraxis. Was ist anders bei Ihnen?
Michael Deppeler: Zuallererst: Wir verstehen uns nicht mehr als traditionelle Hausarzt-Praxis. Denn dieses Modell wird in Zukunft eher eine Nische darstellen. Wir sehen uns als Zentrum für eine umfassende integrative Grundversorgung. Dafür sind zwei Dinge zentral: die Zusammenarbeit mit den Patient*innen und die Zusammenarbeit zwischen den Fachpersonen. Im Zentrum steht der Dialog auf Augenhöhe zwischen den Patient*innen als Expert*innen über ihr Kranksein und Gesundwerden und den Fachpersonen, sei es die Hausärztin, die medizinische Praxisassistentin, die Therapeutin oder die Pflegefachperson als Expert*innen für die Krankheit und deren Behandlung. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir unsere Patient*innen immer fragen: «Weshalb kommen Sie zu uns?» Und später: «Was erwarten Sie?». Als Antwort wollen wir nicht nur erfahren, welche Leiden sie haben, sondern auch, welche Hoffnungen sie mit der Konsultation verbinden, welche Erwartungen sie an mich als verantwortliche Fachperson haben, aber auch, was sie selbst beitragen wollen und was ihr «Krankheitsmodell» ist. Daraus entwickelt sich ein Gespräch, in dem wir gemeinsam das weitere Vorgehen festlegen, es entsteht eine «geteilte Verantwortung».

Wir leben die interprofessionelle Zusammenarbeit durch gemeinsame Fallbesprechungen (Qualitätszirkel), gemeinsame interne Krankengeschichten und gemeinsamen Fortbildungen. Bei uns arbeiten Fachpersonen der Pflege, Psychiatrie, Psychologie, Sozialen Arbeit, Naturheilkunde und Ernährung und ganz in der Nähe haben wir Ergotherapeut*innen und Physiotherapeut*innen, mit denen wir eng zusammenarbeiten.
Neben der Behandlung engagiert sich «Salutomed» auch in der Gesundheitsförderung und Prävention. So unterstützen wir den Verein «xunds grauholz», bei dem ich selbst Mitglied der Geschäftsstelle bin. Der Verein ist eine Bürgerbewegung zur Entwicklung eines regionalen Gesundheitsnetzwerkes. Selbst- und Mitbestimmung im Gesundheitswesen sind Eckpfeiler der Vision.
Wir verfolgen in unserer Arbeit einen systemisch-salutogenetischen Ansatz, das heisst wir arbeiten ressourcenorientiert und verstehen Patient*innen, aber auch uns selbst als Teil eines Systems, das es immer miteinzubeziehen gilt. Wenn es um das System geht, spreche ich oft vom «(un)bekannten Dritten im Sprechzimmer».
Wie kam es zu dieser Ausrichtung?
Michael Deppeler: Nach einigen Jahren Arbeit in der Hausarztpraxis wurde mir klar, wie defizitorientiert, fragmentiert und organzentriert wir in der Medizin unterwegs sind und dass gerade in Krisen die Sinnfrage kaum Platz hat. Ich habe mich in Sachen Spiritualität weitergebildet und nach Konzepten gesucht, in denen die Sinnfrage aber auch das gemeinsame Verständnis und die Handhabbarkeit im Zentrum stehen. So bin ich auf die Salutogenese gestossen. Verglichen mit dem, was ich in der Ausbildung gelernt habe, war dies ein Paradigmenwechsel. Wir haben heute Fachleute, die genau deshalb bei uns arbeiten wollen. Im Gesundheitswesen haben wir diesen Wandel aber noch nicht vollzogen. Ich höre immer wieder von Patient*innen, dass sie von Ärzt*innen unter Druck gesetzt werden, weil sie eine Behandlung nicht oder noch nicht wollen.
Es lohnt sich, in der Gesundheitsversorgung neue Wege zu erkunden.
Die Zusammenarbeit mit den Patient*innen ist eines Ihrer Kernanliegen. Wie gelingt es Ihnen, inmitten der vielen Anforderungen ausreichend Raum dafür zu schaffen?
Michael Deppeler: Gelegenheiten zur Zusammenarbeit bieten sich manchmal unverhofft – wenn man offen, zugewandt und neugierig ist. So kam einmal ein Angehöriger mit einer Checkliste zu mir. Er hatte sie erstellt, weil er bei der Begleitung seiner Frau ins Spital immer wieder etwas vergessen hatte: Medikamente, Allergiekarten, Berichte, Termine etc. Fortan haben wir die Checkliste als Arbeitsinstrument bei der Betreuung seiner Frau verwendet, was für uns beide sehr hilfreich war. Darüber hinaus hat diese Checkliste eine Prozesskette in Gang gesetzt. Sie führte dazu, dass wir heute – 10 Jahre später – dabei sind, ein Instrument zur Verbesserung der Patienten- und Medikamentensicherheit und zur Stärkung der Gesundheitskompetenz bei allen Patient*innen mit chronischen Krankheiten einzusetzen: den «xundheits-kompass». Wir implementieren also gerade ein Instrument, das partizipativ und interprofessionell entwickelt wurde. Wir konnten von und mit einem Angehörigen lernen und so unsere Praxis verbessern.
Sie packen also Gelegenheiten, die sich bieten, am Schopf. Sie schaffen aber auch gezielt Raum für Austausch.
Michael Deppeler: Ja genau! Zum Beispiel mit dem Forum «dialog-gesundheit», das seit 20 Jahren in Zollikofen stattfindet. Diese Initiative ist aus einer schmerzhaften Erfahrung entstanden. Ich war damals am Institut für Hausarztmedizin der Universität Bern (früher «Fakultäre Instanz für Hausarztmedizin») und der Dekan stellte die Frage: «Braucht es in 20 Jahren noch Hausärzt*innen?» Wir haben für ein Symposium alle Stakeholder eingeladen, aber die Patient*innen, also die Betroffenen, vergessen. Aus dieser Erfahrung heraus haben wir «dialog-gesundheit» gegründet, um den vergessenen Patient*innen eine Stimme zu geben.
Bei der ersten Durchführung zu eben dieser Frage «Braucht es noch Hausärzt*innen?» kamen rund 60 Personen. Inzwischen sind es meist 15 bis 20 Personen. Das Forum «dialog-gesundheit» findet fünfmal im Jahr statt. Diese Regelmässigkeit ist wichtig. Jeweils ein*e Hausärzt*in und ein*e Vertreter*in der Bevölkerung laden alle Interessierten in Zollikofen zum Gespräch ein. Im Oktober ziehen wir jeweils Bilanz und legen das Thema für das nächste Jahr fest. Themen der vergangenen Jahre waren zum Beispiel «Gewalt, die uns betrifft», «Das Fremde in uns und um uns» oder 2019, kurz vor der Pandemie und schon fast prophetisch, «Die Welt im Wandel». In diesem Jahr geht es um die Frage: «Wie bleibe ich gesund – im Gesundheitswesen von heute?»
Aus diesen Foren sind viele kleinere und grössere Projekte entstanden, beispielsweise ein Selbstverteidigungskurs für Senior*innen oder der Ratgeber «Wie? So! Alltagsbuch für ein besseres Leben» mit der Gesundheitsförderung Schweiz 2011 (siehe Links).
Was möchten Sie anderen Hausärzt*innen gerne mitgeben?
Michael Deppeler: Ganz bestimmt das: Es lohnt sich, in der Gesundheitsversorgung neue Wege zu erkunden. Auch wenn nicht jede Initiative auf Anhieb gelingt, so belebt und stärkt es mich doch immer wieder, wenn ich sehe, welche Ressourcen die Menschen mitbringen und wenn ich spüre, dass das, was ich tue, auch einem tatsächlichen Bedürfnis entspricht und gut tut.
Interview: Heidi Kaspar

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