«Der Krieg hat mich gelehrt, keine Pläne mehr zu machen»
Die ukrainische Wirtschaftswissenschaftlerin Dr. Iryna Chernysh hat mit ihrer 12-jährigen Tochter an der Berner Fachhochschule BFH Schutz und Arbeit gefunden: die Geschichte eines schicksalhaften E-Mails und einer Forscherin, die in Bern «hilfreich» sein will und bereits am Wiederaufbau ihres Landes arbeitet.
Als das E-Mail ankam, sass sie mit ihrer Tochter gerade im Luftschutzkeller. Wieder einmal. In den Wochen nach Kriegsbeginn mussten sich Iryna Chernysh und ihre 12-jährige Tochter Sophia in Poltawa mehrmals täglich in Sicherheit bringen. Die Stadt liegt in der Zentralukraine, rund 130 Kilometer entfernt von Charkiw. Ihre Tochter, erzählt Iryna Chernysh, sei immer ängstlicher und nervöser geworden, habe Panikattacken erlitten. In dieser verzweifelten Lage erreichte sie die Nachricht von Prof. Dr. Sebastian Gurtner, Leiter des Instituts für Innovation und Entrepreneurship am Departement Wirtschaft: Ob sie nach Bern an die BFH kommen wolle, um ihre wissenschaftliche Arbeit fortzuführen? Ein rettender Anker. Und doch eine ausgesprochen emotionale Entscheidung, wie sich die 40-Jährige erinnert: «Meine Eltern wollen ihr Heimatland nicht verlassen. Mein Exmann und Vater meiner Tochter verteidigt die Ukraine, obwohl er eigentlich kein Soldat ist. Das alles zurückzulassen, fiel mir natürlich sehr schwer.» Aber sie sei in erster Linie eine Mutter, die ihr Kind in Sicherheit bringen wolle – und eine Wissenschaftlerin, der ihre Arbeit am Herzen liege. Also nahm sie das Angebot an.
Geld sammeln für Zootiere
Sie fuhren mit dem Bus nach Warschau und flogen von dort nach Zürich, wo sie Sebastian Gurtner in Empfang nahm. Das war Ende März. Nun sitzt Iryna Chernysh in ihrem neuen Büro im Zentrum für Innovation und Digitalisierung (ZID) im Bernapark in Stettlen. In der Wohn- und Geschäftsüberbauung auf dem Gelände der ehemaligen Kartonfabrik Deisswil haben sie und ihre Tochter auch eine Wohnung bezogen.
Hier sind sie zur Ruhe gekommen. Ein bisschen zumindest. Tochter Sophia geht in Stettlen zur Schule: an zwei Tagen in eine Regelklasse, an drei Tagen zusammen mit anderen ukrainischen Kindern. Während ein paar Stunden kann sie zudem am Online-Unterricht ihrer Schule in Poltawa teilnehmen. Sie sei schon gut integriert, erzählt ihre Mutter, habe auch schon Schweizer Freund*innen gefunden. Gemeinsam haben die Kinder Kuchen gebacken und eine Sammelaktion durchgeführt. Die rund 300 Franken, die dabei zusammengekommen sind, haben sie für Zootiere im heftig umkämpften Charkiw gespendet. «Meine Tochter kann sich schon ziemlich gut verständigen. Ihr kommt zugute, dass sie zuhause in der Schule Deutsch als zweite Fremdsprache gewählt hat», sagt Iryna Chernysh. Ihre eigenen Deutschkenntnisse seien ein bisschen eingerostet, ergänzt sie schmunzelnd, weshalb sie im Moment noch Englisch bevorzuge. «Aber ich arbeite an meinem Deutsch.»
Anerkannte Tourismusforscherin
Iryna Chernysh ist eine anerkannte, international bestens vernetzte Wissenschaftlerin. Sie studierte Betriebs- und Volkswirtschaft, dissertierte und forschte insbesondere zu Themen im Bereich Unternehmertum und Tourismus. Zuletzt widmete sie sich etwa der Frage, wie der Staat beim Aufbau regionaler Tourismusstrukturen helfen kann. «Tourismus hat in der Ukraine sehr grosses Potenzial, das aber noch nicht genügend genutzt wird.» Zudem betreut sie Start-up-Unternehmen, nach Abschluss ihres Studiums betrieb sie selber eines in der Tourismusbranche. Sie ist Direktorin des Instituts für Finanzen, Wirtschaft und Management an der Nationalen Universität in Poltawa. Nach Ausbruch des Kriegs war sie insbesondere damit beschäftigt, Wissenschaftler*innen zu helfen, die aus umkämpften Städten im Osten des Landes geflüchtet waren und ihre Forschungsarbeiten in Poltawa weiterführen wollten. «Im Moment ist es für mich auch sehr wichtig, Unternehmen in meiner Heimat zu unterstützen, damit diese ihren Betrieb einigermassen weiterführen können.» Und schliesslich müsse man jetzt schon den Blick nach vorn richten und finanzielle Mittel für den Wiederaufbau des Landes sammeln.
«Die BFH hat alles für uns gemacht»
Diese Projekte kann sie hier in Bern zusammen mit einer ukrainischen Forscherkollegin weiterverfolgen. Nicht nur dafür ist die Wissenschaftlerin den Verantwortlichen der BFH enorm dankbar. «Sie haben sich um alles gekümmert: um unsere Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen, um eine Wohnung. Sie haben uns das Gefühl gegeben, dass wir sehr willkommen sind. Das ist nicht selbstverständlich.» Auch am Institut für Innovation und Entrepreneurship sei sie sehr schnell integriert gewesen, erzählt Iryna Chernysh. Dort will sie «hilfreich sein», wie sie es ausdrückt, und an einem auf vier Jahre angelegten Projekt mitarbeiten. Unter der Leitung von Prof. Dr. Pascal Dey wird dabei die Wirkung von Crowdfunding-Kampagnen sozialer Institutionen unter die Lupe genommen. Unter anderem gehen die Forscher*innen der Frage nach, wie diese durch visuelle und verbale Kommunikation oder Überzeugungsstrategien beeinflusst werden können. Insbesondere in der qualitativen und quantitativen Datenanalyse könne sie dazu mit Sicherheit einen Beitrag leisten, ist die ukrainische Wissenschaftlerin überzeugt.
Iryna Chernysh konzentriert sich auf das Leben und Arbeiten hier in der Schweiz. Ihre Gedanken sind trotzdem immer in ihrer Heimat. Mit ihren Eltern telefoniert sie täglich, auch mit ihrem Exmann spricht sie regelmässig, obwohl er aus strategischen Gründen nie sagen darf, wo er gerade ist.
Wie sieht sie ihre Zukunft? Träumt sie von einer Rückkehr in ihr Land? «Der Krieg hat mich gelehrt, keine Pläne mehr zu machen», antwortet sie. «Aber eines ist sicher: Ich will meinem Land helfen. Das kann ich hier in der Schweiz mindestens genauso gut tun wie zuhause in der Ukraine.»
«Menschlichkeit und wissenschaftlicher Austausch»
Derzeit arbeiten 15 Forscher*innen aus der Ukraine an der BFH, verteilt auf sechs Departemente. Die Aufenthalte sind vorerst für ein Jahr gesichert. Zwölf dieser Forschungsaufenthalte werden vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert, drei von der BFH selber. Die Forscher*innen gelangten auf unterschiedlichen Wegen nach Bern. Prof. Dr. Corina Caduff, Vizerektorin Forschung an der BFH, stellte für Iryna Chernysh das Gesuch beim SNF im Rahmen des internationalen Programms «Scholars at Risk». Letzteres unterstützt vertriebene Wissenschaftler*innen. «Wir haben die Forscher*innen in erster Linie aus humanitären Gründen bei uns aufgenommen», sagt Corina Caduff. «Gleichzeitig ist uns auch der wissenschaftliche Austausch sehr wichtig. Deshalb gilt es bei allen Visiting Scholars aus der Ukraine zu gewährleisten, dass sie gut zu den ausgewählten Projekten passen.»