«Jedes soziale Thema wird mit einer Wertehaltung diskutiert»

17.01.2024 Er hat mit seinen Entscheiden in den zwei Jahren, die er nun im Amt ist, bereits einiges geprägt im Bernischen Sozialwesen: Manuel Michel, Leiter des kantonalen Amts für Integration und Soziales. Die BFH hat im Gespräch mit ihm erfahren, was ihn seit Amtsantritt bewegt hat und was er von ausgebildeten Sozialarbeitenden erwartet.

Manuel Michel, Leiter Amt für Integration und Soziales Kanton Bern
Das Interview mit Manuel Michel, Leiter Amt für Integration und Soziales Kanton Bern, fand am 19. Oktober 2023 statt.

Herr Michel, Sie sind seit rund zwei Jahren Vorsteher des Amts für Integration und Soziales (AIS). Was war rückblickend Ihre grösste Herausforderung?

Manuel Michel, AIS: Die grösste Herausforderung war ganz klar die Bewältigung der Migrationskrise. Ich startete als Amtsvorsteher im Dezember 2021. Im Februar merkten wir, dass etwas kommt, was noch nie da gewesen ist.

Sie sprechen den Krieg in der Ukraine an: Im Zuge des russischen Überfalls erreichten bis im März 2022 rund 15000 geflüchtete Menschen aus der Ukraine die Schweiz und erhielten den Schutzstatus S. Viele suchten im Kanton Bern Schutz. Was konnten Sie tun?

Ich begann im Februar zu sondieren, ob wir bereit sind für die Aufnahme einer hohen Zahl Geflüchteter. Wir merkten bald, dass wir nicht so bereit waren, wie es nötig war. Wir fällten sofort den Entscheid, einen Sonderstab einzuberufen und organisierten eine externe Begleitung. Es benötigte Monate, bis es sich einigermassen einpendelte. Insgesamt war es ein Kraftakt für die Verwaltung, für die regionalen Partner, für alle Beteiligten.

Was bleibt Ihnen aus dieser Startzeit in Erinnerung? 

Es ist interessant zurückzuschauen: Bei der Ukraine-Krise war diese grosse Solidarität da, alle haben geholfen. Ich war zum Beispiel in der Kollektivunterkunft im Mattenhof in Interlaken, die wir im März 2022 eröffnet haben. Da war der Ballsaal voll mit Spielsachen, Kinderwägen, Kleidern, Essen … Als dann im Herbst die Asylgesuchszahlen auch im regulären Asylbereich stark zunahmen, war die Solidarität plötzlich weg (im Herbst 2022 stiegen die Asylgesuche aus der Türkei und Afghanistan an, vgl. Asylstatistik SEM, Anm. d. Red.). Es kam zu emotionalen Reaktionen aus der Bevölkerung in Wolfisberg oder in Heiligenschwendi. Das ist mir nahegegangen und hat auch die Verantwortlichen mitgenommen, die sich dafür hinstellen mussten. Wir machen genau das Gleiche wie für die Ukrainerinnen und Ukrainer und wollen auch den Geflüchteten aus dem regulären Asylbereich adäquate Unterkünfte zur Verfügung stellen, nur ist das bei der Bevölkerung ganz anders angekommen. Damit habe ich noch heute Mühe.

Wie die BFH mit dem Bernischen Amt für Integration und Soziales (AIS) zusammenarbeitet

Das Departement führt im Auftrag des Amts Schulungen für die Behördenmitglieder durch, damit diese sich vernetzen und weiterbilden können. Dazu gehört unter anderem das einmal jährlich stattfindende Sozialbehördenforum. Die Mitglieder der Sozialbehörden haben gemäss dem Bernischen Sozialhilfe­gesetz (SHG Art. 17) vielfältige Aufgaben der Strategieverantwortung und Aufsicht.

Ausserdem findet ein- bis zweimal jährlich ein Treffen zu einem fachlichen Thema zwischen dem AIS und der Departementsleitung statt. Ergebnisse aus Forschungsprojekten werden präsentiert und diskutiert, oder ein gemeinsames Anliegen, zum Beispiel der Fachkräftemangel im Sozialwesen, wird aus verschiedenen Perspektiven gemeinsam beleuchtet.

Sehen Sie Wege, wie Sie dies seitens des Kantons beeinflussen können?

Das Wichtigste ist immer zu verstehen, dass der Bund uns im Migrationsbereich Vorgaben macht. Der Kanton muss den Auftrag dann umsetzen. Unsere Handhabung ist vor allem, dass wir auf die Gemeinden, die betroffenen Personen und die Freiwilligen zugehen. Es ist immer schwierig, in einer spannungsgeladenen Situation Lösungen zu finden. In gewissen Situationen ist es unmöglich, die Leute zu überzeugen, dass es eine Bereicherung sein kann, Menschen mit einer fremden Kultur im näheren Umfeld unterzubringen. Hier ist der Dialog ein starkes Element, und er ist geprägt von den Menschen, die zusammen interagieren.

Was hat Sie damals persönlich motiviert, sich als Vorsteher des AIS zu bewerben?

Ich habe über zwanzig Jahre in der Wirtschaftsprüfung als Revisor gearbeitet. Plötzlich ist das Bedürfnis aufgekommen, noch etwas anderes zu machen, vielleicht etwas Sinnstiftendes oder Lebensnahes. 

Was macht für Sie den besonderen Reiz Ihrer Stelle aus?

Herausfordernd sind die Gratwanderungen zwischen den knappen Ressourcen und dem bedarfsgerechten Angebot, also dem, was die Klientel benötigt. Ich finde diese Fragestellung zentral. Es gibt nie die richtige Lösung − oder einfacher gesagt, es ist immer jemand unzufrieden. Ich arbeite in einem stark politisch geprägten Umfeld. Die Themenvielfalt in diesem Amt ist gross: einerseits die Sozialhilfe, andererseits der ganze Migrationsbereich, dann die Opferhilfe, zudem alles, was mit Menschen mit einer Behinderung zu tun hat und auch noch die Familienfragen oder die Alterspolitik. Bei dieser breiten Palette an Themen ist die Lösungsfindung sehr oft auch politisch geprägt. In all diesen Bereichen muss man schauen, dass die Zusammenarbeit mit den Gemeinden, den Vereinigungen und Verbänden sowie mit dem Bund funktioniert. Man kann es nicht allein machen. Es ist eine gemeinsame Aufgabe.

Wir führen mit der BFH einen Dialog darüber, wie nahe Lehrelemente an der Praxis sind, ob Empfehlungen umsetzbar sind und was wir mitnehmen können in die Praxis.

Manuel Michel
Manuel Michel Leiter des kantonalen Amts für Integration und Soziales

Das AIS arbeitet auch mit dem Departement Soziale Arbeit der BFH zusammen. Wie sehen Sie hier Ihre Rolle?

Mir ist wichtig, dass wir mit allen Anspruchsgruppen einen guten Dialog pflegen. Wichtig sind dazu Plattformen wie das Sozialbehördenforum, wo man verschiedene Meinungen zusammenbringt. Im Austausch mit der Direktion des Departements ist es das Gleiche: Man holt im Dialog die unterschiedlichen Haltungen ab und sucht eine Lösung oder Annäherung. Es ist für uns wichtig, mit dem Departement zusammenzukommen, um den Abgleich zwischen Lehre und Praxis zu machen. So wie wir den Austausch organisiert haben, mit Vortrag und Diskussion, ist es für uns eine Bereicherung. Wir führen einen Dialog darüber, wie nahe Lehrelemente an der Praxis sind, ob Empfehlungen umsetzbar sind und was wir mitnehmen können in die Praxis. 

Was wünschen Sie sich vom Departement als Wissensbeschafferin für das Sozialwesen im Kanton Bern?

Ich gehe davon aus, dass das Departement unabhängige wissenschaftliche Arbeit macht und dass die Leute, die die Hochschule besuchen, möglichst unabhängig und unvoreingenommen ausgebildet werden. Diesen Grundsatz muss eine Hochschule leben. Dann brauchen wir das Departement als Ausbildungsplattform. Ich gebe ein Beispiel: In den Sozialdiensten im Berner Jura arbeiten Leute, die aus Frankreich oder aus umliegenden Kantonen kommen. Damit wir mit diesen Personen arbeiten können, brauchen wir die BFH. Darum haben wir das Anliegen eingebracht, für diese Leute einen französischsprachigen Kurs für Sozialarbeitende anzubieten. In diesem Fall hat die BFH eine wichtige Rolle übernommen, um uns zu unterstützen.
 

Was ist Ihnen wichtig in Bezug auf die Ausbildung angehender Fachkräfte der Sozialen Arbeit?

Ich denke, dass man die BFH daran messen darf, wie nachhaltig die ausgebildeten Sozialarbeitenden in ihrem Beruf wirken. Wenn ich mich bei Sozialdiensten umhöre, heisst es oft, die Neuen bleiben zwei Jahre und dann suchen sie etwas «Gäbigeres». Selbstverständlich müssen die Arbeitsstellen attraktiv sein und der Lohn muss stimmen. Aber die Menschen, die die BFH ausbildet, müssen wissen, dass ihre Arbeit anspruchsvoll sein wird. Es braucht im Kanton viele dieser ausgebildeten Fachkräfte. Ich glaube, man muss ehrlich sein und nicht nur die schöne Seite zeigen, wenn jemand in ein Berufsfeld hineinschaut.

Dieser Artikel ist im Januar 2024 im Printmagazin «impuls» erschienen.

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Fachgebiet: Soziale Arbeit
Rubrik: Fachhochschule