Künstliche Intelligenz: Augmentiert statt abhängig

01.11.2023 Künstliche Intelligenz ist eine Technologie, die Menschen stärker machen kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine in den Fokus rückt.

Wird der Mensch bald von Maschinen abgelöst? Sind Arbeitsplätze in Gefahr? Hat es im Zeitalter der künstlichen Intelligenz überhaupt noch einen Platz für menschliche Qualitäten? Der aktuelle Diskurs tendiert zur apokalyptischen Sicht auf die neuen und immer ausgefeilteren Technologien. Dabei überschätzen wir Künstliche Intelligenz (KI) und schaffen so Vorstellungen von KI, die nur noch wenig mit der technologischen Realität zu tun haben.

Diese Überhöhung bremst sowohl die Gesellschaft als auch die Forschungsgemeinschaft aus und verhindert, dass wir KI-Ansätze entwickeln, die mit Menschen auf Augenhöhe zusammenarbeiten können.

Mythos Künstliche Intelligenz als der bessere Mensch

KI wird ausserhalb der Fachgemeinde aktuell meist als «Artificial General Intelligence (AGI)» verstanden, also als menschenähnliche, generalistische Intelligenz. Ob Hal in Space Odyssey, Kit in Knight Rider oder T-800 in Terminator – menschenähnliche KIs sind als Topos in der Populärkultur allgegenwärtig. Dabei geht leicht vergessen, dass es sich bei dieser Spielart der künstlichen Intelligenz – zumindest noch – um reine Utopie handelt.

Wir überschätzen Künstliche Intelligenz (KI) und schaffen so Vorstellungen von KI, die nur noch wenig mit der technologischen Realität zu tun haben.

Sarah Dégallier Rochat
Sarah Dégallier Rochat

Der AGI steht die Narrow Artificial Intelligence (NAI) gegenüber. Diese will nicht menschliche Intelligenz replizieren, sondern ein zwar sehr komplexes, aber auch sehr spezifisches Problem lösen. Und anders als bei der AGI ist diese Art der künstlichen Intelligenz schon sehr weit fortgeschritten.

Die Erfahrung mit den Automatisierungsbestrebungen in der Industrie zeigt: Anstrengende, repetitive körperliche Arbeit wird automatisiert. Arbeit, bei der Improvisationsfähigkeit oder Problemlösung gefragt ist, hat die bisherigen Automatisierungswellen überstanden. Weil KIs grosse Datenmengen sowie aufwändiges Training benötigen und aktuell Kreativität lediglich imitieren können, darf man als wandelbarer Mensch relativ positiv in die Zukunft schauen.

Mechanisierung oder Stärkung?

Auch wenn uns Automatisierungstechnologien in naher Zukunft wahrscheinlich nicht ersetzen werden, dürften sie doch die Art und Weise verändern, wie wir arbeiten. Je leistungsfähiger die KI, desto mehr kann sie menschliche Handlungsentscheide überflüssig machen.

Dieses Risiko stellt uns vor die Herausforderung, in der Entwicklung von neuen Technologien stärker darauf zu achten, dass Arbeitnehmer*innen gestärkt und die Mechanisierung des Menschen durch Interaktion mit KI begrenzt wird. Wir sprechen also nicht mehr von Künstlicher Intelligenz, die die menschliche Intelligenz ersetzt, sondern von Augmentierter Intelligenz (oder Augmented Intelligence), die uns ergänzend und unterstützend zur Seite steht.

Augmentierte Intelligenz

Wenn beispielsweise eine KI-basierte Software automatisch relevante Informationen aus Tausenden von Textseiten extrahiert, und ein Mensch darüber entscheidet, was daraus zu schliessen wäre, ist dies eine Anwendung von Augmented Intelligence. Auch wenn eine KI Anomalien auf Röntgenbildern anzeigt, Übersetzungen vorschlägt, Qualitätsmängel aufspürt, damit ein Mensch schneller entscheiden kann, was mit diesen Informationen passieren soll, sprechen wir von augmentierter Intelligenz.

Diese Arbeitsaufteilung zwischen Mensch und Maschine macht Sinn, denn die Datenanalyse «von Hand» oder das Erkennen von Anomalien ist für Menschen zeitaufwändig und fehleranfällig. Umgekehrt wäre die Maschine nicht in der Lage, andere Aspekte als den engen Blick auf die Daten zu berücksichtigen. Augmentierte Intelligenz ermöglicht also schnellere, effizientere und trotzdem menschliche Entscheide.

Natürlich gibt es gewisse Probleme bei der Umsetzung solcher Augmented-Intelligence-Systeme. So können menschliche Mitarbeiter*innen Resultate von KIs nur schwer hinterfragen. Denn KIs denken nicht logisch, sie berechnen Lösungen, die aufgrund der Trainingsdaten und der gesetzten Zielparameter am wahrscheinlichsten sind. Und wie jede neue Technologie birgt auch Augmented Intelligence die Gefahr, dass sie Stereotype und Machtgefälle verhärtet, statt sie aufzulösen.

Augmentierte Intelligenz ermöglicht also schnellere, effizientere und trotzdem menschliche Entscheide.

Sarah Dégallier Rochat
Sarah Dégallier Rochat

Moral für die Blackbox

Wir als Gesellschaft müssen entscheiden, welche moralischen Werte wir in Zukunft der Mensch-Maschine-Interaktion zugrunde legen wollen. KI ganz ohne Vorurteile sind nur schwer vorstellbar, denn zusätzlich zu den bekannten Arten der Voreingenommenheit, verbergen sich in Trainingsdaten auch Muster, die uns Menschen noch gar nicht bekannt sind.

Wenn beispielsweise eine KI Personaldossiers vorselektiert und in den Trainingsdaten erkennt, dass Menschen mit einer gewissen Ähnlichkeit zu einer in der Öffentlichkeit mehrheitlich negativ besetzten Person weniger oft angestellt wurden, wird sie dieses Muster als Empfehlung ausspielen. Durch Muster in den Trainingsdaten entsteht für uns Menschen unerwartete Diskriminierung. Eine vollkommen neutrale KI ist also wenig realistisch. Aber wir können entscheiden, wie KIs mit uns bekannten Formen von Diskriminierung, Marginalisierung und Ausschlüssen umgehen sollen.

Augmentierte Arbeit

Durch augmentierte Intelligenz wird die Maschine vom Ersatz für Menschen zur Erweiterung und Verstärkung der menschlichen Arbeiternehmer*innen. Tatsächlich erlebt die Welt der Industrialisierung einen Paradigmenwechsel.

In der Vergangenheit waren Maschinen komplex und teuer. Die Arbeiternehmer*innen hatten nur wenige Möglichkeiten, die Maschinen zu modifizieren oder ihre eigenen Fähigkeiten zu ergänzen. Neue Technologien wie die kollaborative Robotik demokratisieren jedoch die Technologie und machen sie auch für Nicht-Expert*innen zugänglicher.

KI und Robotik werden damit zu Werkzeugen, die Arbeiternehmer*innen effizienter machen und in ihrer Arbeit unterstützen. Es geht also nicht länger darum, den Entscheidungsspielraum der Arbeiternehmer*innen maximal zu reduzieren, um Fehler zu vermeiden. Stattdessen wird Technologie eingesetzt, um selbstbestimmte Arbeiternehmer*innen zu unterstützen und sie auf mögliche Fehler hinzuweisen.

Wir brauchen einen Knigge für Künstliche Intelligenz

Die Idee, dass KI bald der bessere Mensch sein könnte, ist ebenso faszinierend wie irreführend. Statt uns mit utopischen Zukunftsvisionen zu beschäftigen, müssen wir klären, wie die Mensch-Maschine-Interaktion in Zukunft aussehen soll. Letztendlich ist es nicht die Technologie, die eine Bedrohung für Menschen darstellt, sondern vielmehr die Art und Weise, wie sie implementiert wird und wie wir damit umgehen.

Darstellung eines Mediziners, der mit digitalen Hilfsmitteln arbeitet.
Humane KIs helfen Menschen dabei, ihre Aufgaben besser zu erfüllen.

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