Lebenscoaching auf Augenhöhe im Paraplegikerzentrum Nottwil

28.11.2023 Als Form der Partizipation sind seit 2008 im Schweizerischen Paraplegikerzentrum (SPZ) Peers im Einsatz. Als Betroffene unterstützen sie Personen, bei denen eine Querschnittlähmung diagnostiziert wurde. Eine dieser Peer Coaches ist Giordi Bianda. Seit rund 30 Jahren lebt sie aufgrund eines Verkehrsunfalles mit einer Querschnittlähmung und sitzt im Rollstuhl. Im Interview erzählt sie von ihrer Arbeit.

Giordi Bianda, Sie waren einst selbst Patientin im Paraplegikerzenrum Nottwil. Heute ist es als Peer Ihr Arbeitsplatz. Was ist Peer-Arbeit?

Der Grundsatz der Peers lautet «Betroffene helfen Betroffenen». Wenn man von einem Schicksal getroffen wird, ist es sehr wichtig, sich mit Leuten auszutauschen, welche dasselbe erlebt haben oder vor denselben Hindernissen oder Problemen stehen. Peer-Arbeit bezieht auch die Angehörigen mit ein: Zu Beginn leiden sie oft noch mehr als die betroffene Person selbst, haben viele Fragen. Wenn die Angehörigen gut informiert sind, ist auch die zu behandelnde Person ruhiger. Peers sprechen aus eigener Erfahrung und nicht vom «Hörensagen» oder aus den Medien. Ich spreche in meiner Arbeit sehr viel vom Alltag und wie ich mit kleinen und grossen Herausforderungen umgehe. Das sind Themen wie: Wie bewege ich mich mit dem Rollstuhl am besten, welche Art von Kleidung ist im Rollstuhl praktisch und welche Alltagsgegenstände sind wirklich nützlich. Sehr oft sprechen wir auch über intime Themen wie Blasen- und Darmentleerung.

Giordi Banda
Giordi Banda (zweite von rechts) auf einem Übungsausflug mit einer Gruppe von Paraplegiker*innen auf dem Stanserhorn.

Wo hat Peer-Arbeit seinen Platz neben der medizinischen Versorgung?

Eine Ärztin hat einmal gesagt «Wo wir die Patient*innen verlieren, holen sie die Peers wieder ab». Das medizinische Fachpersonal kann eine Diagnose stellen, die Behandlung planen. Aber mit der Diagnose muss anschliessend die betroffene Person selbst klarkommen. Daher arbeiten wir Peers auch eng mit den Ärzt*innen, Pflegepersonal, Physio- und Ergotherapeut*innen. Das wird in Nottwil sehr geschätzt. Das Gesundheitspersonal bezieht uns mit ein und schickt uns bei einer schwierigeren Situation zu den Patient*innen.

Wir bieten Gespräche an und üben Situationen beim «Learning by doing». Einmal pro Monat organisieren wir Ausflüge, zum Beispiel aufs Stanserhorn, an ein Konzert, in ein Bowling Center oder wir gehen zum Shopping. So erfahren Betroffene, dass ein Leben auch mit einer Querschnittlähmung weitergeht und man schöne Dinge unternehmen kann.

Die wichtigsten Kurse sind unsere sogenannten «ParaHow-Kurse» zu den Themen Blase, Darm, Sexualität, Haut, Druckstellen und Thermoregulation.  Die Betroffenen müssen ihren neuen Körper beherrschen, bevor sie nach Hause gehen, ansonsten kann es lebensbedrohlich werden.

Eine Ärztin hat mal gesagt: «Wo wir die Patient*innen verlieren, holen sie die Peers wieder ab.»

  • Giordi Bianda

Inwieweit beeinflusst Peer-Arbeit die Rehabilitation ?

Die Peers sind für die Betroffenen die Expert*innen aus Erfahrung und erzählen aus ihrem Leben. Die Peers vermitteln also die Realität. Als Peer fragen wir immer, ob unser Besuch und unsere Gespräche erwünscht sind. Die Betroffenen fühlen sich mit uns gut aufgehoben, da sie auch ihre persönlichen und teils intimen Fragen stellen können. Denn sie wissen, dass wir dieselbe Problematik hatten oder immer noch haben.

Gerade wenn der Austritt aus der Erstrehabilitation näher rückt, häufen sich die Anfragen für Termine. Wir bleiben auch nach dem Austritt in Kontakt, um Herausforderungen, die erst zu Hause realisiert werden, thematisieren zu können. Auch bei den regelmässigen Kontrolluntersuchungen nach dem Austritt treffen wir die Betroffenen auf ihren Wunsch hin oft wieder, sei es bei einem Mittagessen oder gemeinsamen Kaffee. Es hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass eine Rehabilitation mit einer Peer-Begleitung erfolgreicher ist.

Die betroffene Person kann ihre Genesung mitsteuern, wenn sie lernt, einen anderen Fokus auf ihr Leben zu legen.

  • Giordi Bianda

Wie wird man Peer bei euch? 

Um im SPZ als Peer arbeiten zu können, muss man mindestens drei Jahre im Rollstuhl sein. Peers müssen aktiv sein und Lebensfreude ausstrahlen. Pro Jahr müssen die Peers zwei Kurse besuchen, zum Beispiel in Psychologie. Mir persönlich hat ein Kurs von «MyPeer» geholfen. Ich habe dort gelernt, wie ich Diskussionen und Gespräche führen kann.  

Wie ist es für dich als Peer, die neu Betroffenen zu begleiten? Gibt es Grenzen?

Die Arbeit als Peer bereitet mir Freude und ist für mich sinnstiftend. Ich hätte mich gefreut, hätte mich nach meinem Unfall eine Begleitperson in Form einer Peer-Person unterstützt. Meine Genesung wäre schneller vorangegangen und ich hätte rascher wieder Hoffnung gefasst. Natürlich musste ich auch lernen, mich abzugrenzen. Die Charaktere der Betroffenen sind sehr unterschiedlich, dies muss man akzeptieren. Wichtig ist: Ich kann beraten, helfen und vermitteln, aber nicht die Probleme lösen. Die Betroffenen müssen selber aktiv werden. Es ist wie mit einem Kind – es muss selbst lernen, die Eltern können es dabei unterstützen.  

Inwiefern ist Peer-Arbeit partizipativ? 

Die betroffene Person kann ihre Genesung mitsteuern, wenn sie lernt, einen anderen Fokus auf ihr Leben zu legen. Am Anfang ist dies immer schwierig. Die Peer-Person versucht, bei dieser Transformation zu helfen. Die Vergangenheit holt einen zwar immer ein, vor allem in der ersten Phase der Rehabilitation. Doch irgendwann muss man sich von dieser Vergangenheit lösen und anfangen, in der Gegenwart zu leben und in die Zukunft zu schauen.  

Zur Person: Giordi Bianda

Giodi Banda
Giodi Banda sitzt seit über 30 Jahren aufgrund eines Verkehrsunfalls mit einer Querschnittlähmung im Rollstuhl und arbeitet als Peer im Paraplegikerzentrum Nottwil.

Interview: Vanessa Grand, Mitarbeiterin Kompetenzzentrum Partizipative Gesundheitsversorgung

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