Living Library: Care-Arbeit sichtbar machen

14.11.2023 Care-Arbeit ist allgegenwärtig und essenziell, gleichzeitig aber oft unsichtbar und unbezahlt. Um auf das Thema aufmerksam zu machen, hat ein interdisziplinäres Team der Berner Fachhochschule betroffene Menschen gefragt: Wie fühlt es sich an, wenn man auf Care-Arbeit angewiesen ist?

Die verschiedenen Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns sind mit dem Begriff Care-Arbeit gemeint. Die Betreuung von Kindern, die Pflege von kranken oder älteren Erwachsenen, die Haushaltsführung oder die Hilfe unter Freund*innen: Weltweit leisten Milliarden von Menschen eine breite Palette von fürsorglichen Tätigkeiten für andere Personen.

Zu den bezahlten Care-Arbeiter*innen gehören Fachkräfte aus dem Gesundheits- oder Sozialbereich, wie beispielsweise Pflegefachkräfte oder Sozialarbeitende in Spitälern, Heimen oder Schulen. Ein Grossteil der Menschen, die im Gesundheits- und Sozialbereich tätig sind, leistet bezahlte Care-Arbeit. Gemäss Bundesamt für Statistik arbeiten 15,3 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz in diesen Bereichen (BFS, 2022), das sind rund 750’000 Personen.

Dazu kommt die ganze unbezahlte Care-Arbeit: 2018 hatten in der Schweiz 1,9 Millionen Personen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren mindestens eine regelmässige Betreuungsaufgabe (BFS, 2020).

Diese Zahlen sagen noch wenig darüber aus, wie zeitaufwändig Care-Arbeit ist. In Arbeitsstunden ausgedrückt sind dies in der Schweiz jährlich 16 Milliarden Stunden, der grössere Teil davon (8,7 Mia) ist unbezahlt (EBG, 2010, S. 7).

Care-Arbeit – ob bezahlt oder unbezahlt – stellt also einen bedeutenden Teil unserer Wirtschaft dar. Trotzdem wurde der ökonomische Wert dieser Arbeit in der Vergangenheit wenig beachtet.

Living Library Care Arbeit
Während des Feministischen Streiks 2023 auf dem Bundesplatz in Bern hat die BFH eine «Living Library» eingerichtet.

Ein BFH-Projekt am Feministischen Streik

Da Care-Arbeit traditionell meist von Frauen ausgeführt wird, war das Thema ein Schwerpunkt des Feministischen Streiks 2023. Forscherinnen aus den Departementen Soziale Arbeit und Gesundheit errichteten darum auf dem Bundesplatz in Bern eine «Living Library» - eine lebende Bibliothek. Ausgeliehen werden konnten nicht Bücher, sondern Menschen, die über ihre Erfahrungen zur Care-Arbeit berichteten. «Ziel der Aktion war es, Brücken zu bauen, zu sensibilisieren und nach Möglichkeit die Erkenntnisse zurück in die Forschung und Lehre der BFH fliessen zu lassen», sagt Prof. Dr. Heidi Kaspar, Co-Leiterin des Kompetenzzentrums Partizipative Gesundheitsversorgung des Departements Gesundheit.

Ein besonderes Augenmerk lag auf Menschen, die selbst auf Care-Arbeit angewiesen sind. «Diese Menschen sind besonders verletzlich», erklärt Heidi Kaspar, «darum wollten wir ihnen eine Stimme geben und ihre Erfahrungen hörbar für andere machen.» Die Forschung versteht noch immer zu wenig, wie sich Bedingungen und Erleben von Care-Arbeit auf Betroffene auswirken, sowohl auf «Leistungserbringer*innen» wie auch auf «Empfänger*innen».

Individuelle Erfahrungen in Form von Geschichten sind für diesen Lernprozess besonders geeignet, weil sie Vielschichtigkeit transportieren können. So erzählten die Betroffenen beispielsweise von der Schwierigkeit, Hilfe anzunehmen, dem Machtgefälle zwischen Ärzteschaft und Patient*innen oder dem Kampf um Anerkennung.

Global Care Chain

Global Care Chain

Die unbezahlte Care-Arbeit darf aber nicht isoliert auf die Schweiz betrachtet werden: Als besonders wohlhabendes Land ist die Schweiz am Ende einer internationale Betreuungskette, der sogenannten «Global Care Chain».

Arbeitsmigrantinnen übernehmen bezahlte Betreuungs-, Pflege- und Haushaltsaufgaben in Zielländern wie der Schweiz, während ihre eigenen Kinder im Heimatland bleiben und dort von Familienangehörigen oder Angestellten betreut werden.

Vier Geschichten der Living Library zum Anhören

Die Gespräche der «Living Library» wurden aufgezeichnet, nachgesprochen und können so in der Forschung und in der Ausbildung der Berner Fachhochschule eingesetzt werden.

Es ist nicht selbstverständlich, dass ich Unterstützung durch mein Umfeld erhalte.

Berta, 91 Jahre

Es geht um die Privatsphäre und die ist heilig. Die Wohnung ist wie deine zweite Haut, die deine Intimsphäre schützt.

Céline, 64 Jahre

Vom System ist nicht vorgesehen, dass eine Mutter nicht für ihren Säugling sorgen kann und selbst Hilfe braucht.

Laura, 38 Jahre

Mir war bei meiner Arbeit als Pflegefachfrau nicht bewusst, dass das Machtgefälle zwischen Patient*innen und Fachpersonen so gross ist.

Nadia, 42 Jahre


 

Übrigens: Die Gespräche der «Living Library» wurden von professionellen Sprecher*innen nacherzählt und aufgenommen. Sie werden nun in der Ausbildung und Forschung der BFH eingesetzt und stehen der Öffentlichkeit zur Verfügung.

 

Literatur:

Bundesamt für Statistik (BFS) (2022): Wirtschaftssektor und -abschnitt. Beschäftigung und Berufe im Gesundheitsbereich. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitswesen/beschaeftigung-berufe-gesundheitsbereich.html#_par_table_26136003_1 

Bundesamt für Statistik (BFS) (2020): Vereinbarkeit von Beruf und Familie in der Schweiz und im europäischen Vergleich im Jahr 2018. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.assetdetail.13772998.html

Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (2010): Anerkennung und Aufwertung der Care-Arbeit. Impulse aus Sicht der Gleichstellung. Bern: BBL.

Otto, Ulrich; Leu, Agnes; Bischofberger, Iren; Gerlich, Regina; Riguzzi, Marco; Jans, Cloé & Golder, Lukas (2019): Bedürfnisse und Bedarf von betreuenden Angehörigen nach Unterstützung und Entlastung – eine Bevölkerungsbefragung. Schlussbericht des Forschungsmandats G01a des Förderprogramms «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020». Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit BAG, Bern.

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Fachgebiet: Gesundheit, Gesundheitstechnologien + Public Health