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Wie steht es um die psychische Gesundheit in der Schweiz?
30.11.2023 Fachleute und Medien warnen: Die Schweiz steckt mitten in einer «Mental-Health»-Krise. Doch was sagen die Zahlen? Und wie kann die psychiatrische Versorgung mit dem Problem umgehen?
Das mentale Wohlbefinden ist in den letzten 20 Jahren zu einem immer wichtigeren Thema in unserer Gesellschaft geworden. Dies zeigen beispielsweise die steigende Nennung von Begriffen wie «psychische Gesundheit» oder «Mental Health» in den Medien oder zunehmende Google-Suchanfragen. Man könnte davon ausgehen, dass mit der verstärkten Wahrnehmung auch eine tatsächliche Verschlechterung der psychischen Gesundheit in unserer Gesellschaft einhergeht. Verschiedene epidemiologische Studien zeigen aber, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen gar nicht steigt, hingegen die Inanspruchnahme von psychiatrischen Dienstleistungen deutlich zunimmt. Über die Gründe kann spekuliert werden: Veränderung der Wahrnehmung, höhere Akzeptanz, gesellschaftlicher Wandel oder die Ausweitung professioneller Konzepte wie beispielsweise Trauma können als wahrscheinliche Faktoren herangeführt werden. Tatsache ist aber, dass die Nachfrage nach psychiatrischen Leistungen steigt.
Junge und Frauen besonders stark betroffen
Die aktuellen Zahlen zur psychischen Gesundheit zeichnen ein düsteres Bild: Laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium OBSAN leidet rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung an psychischen Problemen. Dabei sind leichte bis schwere Depressionen und Angststörungen die häufigsten Symptome. Hilfe haben lediglich rund ein Drittel der Personen mit Behandlungsbedarf erhalten. Damit besteht auch hierzulande ein hoher ungedeckter Bedarf.
Für junge Menschen ist der Leidensdruck speziell hoch: Etwa zwei Drittel der jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren zeigen leichte bis schwere depressive Symptome. Auch von Essstörungen oder Selbstverletzungen sind junge Frauen überdurchschnittlich stark betroffen. Junge Männer sind hingegen besonders anfällig für einen problematischen Alkohol- oder Cannabiskonsum.
Verschiedene Studien zeigen, dass sich die Corona-Pandemie weniger stark auf die mentale Gesundheit der Bevölkerung ausgewirkt hat, als dass die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt. Dies gilt aber nicht für Jugendliche, die gemäss dem Bundesamt für Gesundheit BAG im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erheblich stärker von der Pandemie belastet wurden. Das Gleiche gilt für die Auswirkungen des Klimawandels auf die Psyche der Menschen: Solastalgie, Öko-Angst und Öko-Paralyse sind neue Symptome, die besonders junge Menschen stark belasten.
Fachkräftemangel belastet das System
Auf den ersten Blick ist die Schweiz sehr gut auf eine Krise der psychischen Gesundheit vorbereitet. Die Eidgenossenschaft hat eine der höchsten Dichten an Psychiater*innen in Europa. Ähnliches gilt auch für die Anzahl Betten in psychiatrischen Kliniken. Doch das breit ausgebaute System hat einen Nachteil: In der Schweizer Psychiatrie herrscht – wie im gesamten Gesundheitssystem – ein chronischer Fachkräftemangel. Das grosse Angebot kann der noch grösseren Nachfrage nicht nachkommen. Eine Folge davon sind beispielsweise lange Wartezeiten – besonders für ambulante Therapien. Viele Praxen verhängen denn auch Aufnahmestopps aufgrund von Kapazitätsengpässen.
Ein Symptom der überlasteten psychiatrischen Versorgung ist die vermehrte Anwendung von Zwangsmassnahmen. Mit ihren knappen personellen Ressourcen können Kliniken unfreiwillige Einweisungen oft nur schwer bewältigen. Da sie eine Versorgungspflicht haben, können sie diese Eintritte nicht ablehnen und müssen vermehrt auf Zwangsmassnahmen zurückgreifen.
Hohe Nachfrage nach ambulanten Angeboten
Eine bessere Integration des psychiatrischen Angebots in die Primärversorgung könnte die stationären Dienste entlasten. Obwohl die Krankenversicherung in der Schweiz die psychiatrische Versorgung abdeckt, bieten nur wenige Hausärzt*innen entsprechende Leistungen an. Die psychische Gesundheit wird meist strikt von der somatischen Gesundheit getrennt. Hier könnten in Zukunft Pflegefachpersonen mit einer Advanced-Practice-Rolle – spezifisch mit dem Abschluss Psychiatric Mental Health Nurse Practitioner – eine wichtige Funktion übernehmen.
In der Schweiz hat das im Juli 2022 eingeführte Anordnungsmodell für Psychotherapeut*innen teilweise Abhilfe geschaffen. Im heutigen System müssen Patient*innen keinen Psychiater, keine Psychiaterin mehr finden. Neu reicht eine Überweisung vom Grundversorger. Dadurch sollte der Zugang zu psychiatrischen Leistungen vereinfacht worden sein.
Eine weitere Möglichkeit, den Fachkräftemangel abzufedern, ist der Ausbau der ambulanten Versorgung. Die ambulante Versorgung ist im Vergleich zur stationären Pflege weniger personalintensiv und reduziert das Risiko eines stationären Eintritts erheblich. Damit können auch potenzielle Zwangsmassnahmen verhindert, Wartezeiten reduziert und Kosten gesenkt werden. Die Nachfrage nach ambulanten Angeboten wie beispielsweise der Wohnbegleitung sind sehr hoch.
Damit die ambulanten Angebote ausgebaut werden können, muss der ambulante Tarif TARMED zwingend revidiert werden. Während die stationären Behandlungen von den Kantonen und den Krankenversicherungen gemeinsam finanziert werden, sind für ambulante Leistungen allein die Versicherungen zuständig. Das Tarifsystem wurde seit den 1990er-Jahren nicht mehr aktualisiert und spiegelt nicht mehr die tatsächlichen Kosten wider. Dies erschwert den Ausbau ambulanter Angebote, für die eine grosse Nachfrage besteht.
Die viel beschworene «Mental Health»-Krise ist also vor allem eine Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot. Eine bessere Integration psychiatrischer Leistungen in die Primärversorgung und der Ausbau ambulanter Dienste könnten dieses Missverhältnis auf der Angebotsseite entlasten. Zusätzliche Bemühungen auf der Nachfrageseite wie eine verstärkte Prävention und ein verbesserter gesellschaftlicher Umgang mit psychischen Erkrankungen sind nötig.
Referenzen
- Dirk Richter: Die vermeintliche Zunahme psychischer Erkrankungen – Gesellschaftlicher Wandel und psychische Gesundheit; Psychiatrische Praxis 2020.
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Claudio Peter, Alexandre Tuch, Daniela Schuler: Psychische Gesundheit – Erhebung Herbst 2022; Schweizerisches Gesundheitsobservatorium, 2023.
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Stocker, D., Jäggi, J., Liechti, L., Schläpfer, D., Németh, P., & Künzi, K.
(2021). Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz. Schlussbericht. Bern: Bundesamt für Gesundheit.