Im Schatten des Gesundheitssystems: Obdachlose und Sans-Papiers

14.09.2023 Psychische Belastungen sind bei schwer erreichbaren Gruppen wie Obdachlosen und Sans-Papiers verbreitet. Forscherinnen der Berner Fachhochschule haben untersucht, wie die Betroffenen psychische Belastungen erleben, wie sie damit umgehen und wie sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung wahrnehmen.

In der Schweiz leben rund 2200 obdachlose Menschen und schätzungsweise 80'000 bis 300'000 Personen ohne Aufenthaltsberechtigung, sogenannte Sans-Papiers. Sie leben oft in prekären Verhältnissen mitten in den Städten. Trotzdem stehen sie selten im Fokus der Forschung. Das SNF-Projekt «ReachOut» wollte dies ändern: Forscherinnen der Berner Fachhochschule untersuchten die Bedürfnisse und die Gesundheitskompetenzen von Obdachlosen und Sans-Papiers in Zusammenhang mit psychischer Gesundheit sowie ihre Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung. Basis war ein sechsmonatiger Feldaufenthalt in einem Treffpunkt für Obdachlose und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sowie in einer Lebensmittelausgabe für Armutsbetroffene in Zürich. Zusätzliche Einblicke in den Lebenskontext der Zielgruppe gewannen die Forscherinnen beispielsweise auf Patrouillen mit aufsuchenden Sozialarbeiter*innen.

Prekäre Lebensbedingungen und ständige Angst

Die Untersuchungen haben gezeigt, dass unterschiedliche Wege in die Obdachlosigkeit führen: Einige Betroffene suchten eine Art «Freiraum», indem sie sich bewusst aus der Gesellschaft und den Versorgungssystemen zurückzogen – oft aufgrund negativer Erfahrungen, die sie dort gemacht hatten. Andere wiederum wurden beispielsweise durch Wohnungsverlust obdachlos. Die meisten Befragten schilderten prekäre Lebensbedingungen: Sie sind der Witterung ausgesetzt, leben in ausgeprägter Armut, sind mit Gewalt oder Diebstahl konfrontiert und müssen täglich nach Möglichkeiten suchen, ihre Grundbedürfnisse zu decken. Dies begünstigt eine sogenannte Frühalterung. Der «Ausstieg» aus dieser Lebenssituation wird durch verschiedene strukturelle Hürden erschwert oder verunmöglicht. Der zuvor gesuchte «Freiraum» kann so zum «Zwangsraum» werden.

Essensausgabe
Das niederschwellige Angebot einer Essenausgabe ist allen Personen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zugänglich. (Foto: Adobe Stock)

Sans-Papiers bezeichnen sich selbst als «die Unsichtbaren mittendrin», denn obwohl sie oft einer Arbeit nachgehen und zentral leben, führen sie ein Leben im Verborgenen. Ihr Alltag ist geprägt von der ständigen Angst vor Personenkontrollen und der drohenden Ausschaffung. Dies beeinflusst, wie und wo sie sich im öffentlichen Raum bewegen, eine gesellschaftliche Teilhabe bleibt ihnen häufig verwehrt. Auch Sans-Papiers beschreiben ihre Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Arbeit, Wohnen oder genereller Perspektivenentwicklung als stark limitiert. Sie bewegen sich weitgehend in Gemeinschaften, die z. B. auf gemeinsamen Sprachen, Herkunfts- und aktuellen Lebenskontexten basieren.

Psychische Gesundheit und Gesundheitskompetenz

Teilnehmende Beobachtung und Gespräche mit obdachlosen Menschen zeigten, dass psychische Belastungen wie psychotisches Erleben, Angstsymptome, Agitation/Nervosität oder kognitive Beeinträchtigungen weit verbreitet sind. Der subjektive Leidensdruck kam in Gesprächen, im Verhalten und in der Interaktion mit anderen deutlich zum Ausdruck. Die Betroffenen schätzen ihre psychische Gesundheit häufig anders ein als die Fachpersonen. Psychiatrische Diagnosen werden als «Stempel» erlebt, die Betroffenen fühlen sich in ihrem subjektiven Erleben und ihren Erklärungsmodellen nicht ernst genommen. Dies begünstigt ein generelles Misstrauen und Rückzugsverhalten. Gleichzeitig bedeuten die soziale Abgrenzung und andere kreative und unkonventionelle Aktivitäten förderliche Gesundheitsstrategien. Die eigene Unabhängigkeit zu bewahren, ist für sie dabei stets zentral.

Sans-Papiers beschreiben omnipräsente psychische Belastungen wie Ängste, ein generell fehlendes Sicherheitsempfinden, Depressionen oder Einsamkeit – oft in Kombination. Darüber hinaus berichten sie von erlebten Traumatisierungen, deren Symptomatik durch erschwerte strukturelle Bedingungen wie fehlende Aufenthaltsbewilligung oder eingeschränkte Rechte verstärkt wird. All diese Faktoren führen zu einem chronischen Stresserleben, das sich auch in körperlichen Symptomen manifestiert. Aufgrund der stetigen Angst, entdeckt zu werden oder infolge mangelnder Informationen vermeiden sie Kontakte ausserhalb bekannter Netzwerke, suchen Rat im persönlichen Umfeld oder behandeln sich mit eigenen Hausapotheken. Religion, Spiritualität und Glaube erweisen sich als wichtige Stütze im Umgang mit bestehenden psychischen Belastungen.

Niederschwellige Angebote erwünscht

Durch die Untersuchung wurde deutlich, dass beide Gruppen Zugangshürden zur Gesundheitsversorgung erleben und sie selbst zielgruppenspezifische Angebote häufig nicht, oder erst wenn es unvermeidbar wird, beanspruchen. Dabei werden hohe Gesundheitsrisiken eingegangen. «Professionelle» Unterstützung suchen beide Zielgruppen meist ausserhalb der Gesundheitsversorgung. Einige wünschen sich jedoch niederschwellig zugängliche, kontinuierliche und alltagsnahe Gespräche mit Gesundheitsfachpersonen.

Die Ergebnisse von «ReachOut» wurden in Workshops u. a. mit psychiatrischen Pflegefachpersonen und Sozialarbeiter*innen diskutiert. Diese zeigen ein Interesse an verbesserten Versorgungszugängen und Angebotsentwicklungen, z. B. für eine gezieltere aufsuchende Begleitung von Betroffenen.

Während des Projekts zeigte sich, dass die Situation älterer Personen in prekären Wohnsituationen die Unterstützungsangebote zunehmend vor Herausforderungen stellt. Eine Anschubfinanzierung der BFH im Rahmen des Themenfelds «Caring Society» ermöglicht nun die Ausarbeitung des Folgeprojekts «CONNECT». In diesem Projekt sollen die Bedürfnisse der älteren Zielgruppe hinsichtlich psychischer Gesundheit und Wohnen exploriert und später partizipativ Lösungsansätze ausgearbeitet werden.

 

Mental Health im Fokus

Die Pflege unserer psychischen Gesundheit ist ein immer wichtigeres Thema in unserer Gesellschaft. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu Mental Health und Wohlbefinden. Das Symposium «Fokus Gesundheit» mit ausgewiesenen Fachexpert*innen schliesst den Themenschwerpunkt ab.

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Fachgebiet: Gesundheit, Gesundheitstechnologien + Public Health, Pflege