3 Fragen an Tobias Niederhauser, Student und Betreuer von unbegleiteten Minderjährigen aus der Ukraine

Vier Präsenzmodule an der BFH, dazu zwei Jobs zu total 90 Prozent: Tobias Niederhausers Frühlingssemester 2022 hatte es in sich. Die Wochen sind lang und das Erlebte intensiv, denn seit April arbeitet er bei Zugang B und betreut junge Menschen auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine. Er hat uns geschildert, was er dort erlebt.

Tobias Niederhauser, Sie studieren im 7. Semester. Sie sind bei Zugang B als Werkstudent tätig. Dort sind Jugendliche beherbergt, die in diesem Frühjahr aus der Ukraine geflüchtet sind. Wie sehen die Tage der jungen Menschen aus?

Die Tagesabläufe sind für alle ähnlich. Alle besuchen weiterhin, zumindest teilweise, den Fernunterricht, den ihre ukrainische Hochschule oder Schule anbietet. Zudem hat der Kanton Bern sie in Deutsch-Intensivkurse angemeldet. Diese können sie täglich halbtags besuchen. Fünf Jugendliche sind in derselben Klasse, der Jüngste wurde später angemeldet und ist deshalb in einer anderen Klasse. Es handelt sich um Deutschkurse ausschliesslich für ukrainisch-stämmige Jugendliche, wodurch auch Vernetzungen entstanden sind. Sie treffen sich nun in der Freizeit mit Klassenkamerad*innen.

Was sind die aktuell wichtigsten Bedürfnisse der unbegleiteten Jugendlichen?

Generell nehme ich ein hohes Bedürfnis nach Mobilität wahr: Die Jugendlichen wollen mit dem Zug die Schweiz bereisen und haben bereits Ausflüge nach Montreux oder Lugano gemacht. Auch Bekannte aus der Ukraine, die in anderen Städten in der Schweiz sind, haben sie getroffen. Seit Anfang Juni werden die Kosten für den öV nicht mehr übernommen. Seither haben sie ein Libero-Abo für die Region, damit sie die Deutschkurse besuchen können. Reisen zu Bekannten ausserhalb der Region sind nun nicht mehr möglich. Im Alltag merken wir Betreuenden, dass das den Jugendlichen aufs Gemüt schlägt.  

Die jungen Erwachsenen, die die obligatorische Schulzeit bereits abgeschlossen haben, möchten in der Schweiz eine weiterführende Schule besuchen. Wir stehen hierzu in Kontakt mit den Bildungsinstitutionen und unterstützen bei der Suche nach passenden Angeboten. Zudem haben wir einige Jugendliche an Sportvereine in Bern und Umgebung vermittelt. Einige von ihnen besuchen nun Trainings bei Volley-, Basketball- oder Tischtennis-Vereinen.

Sie weisen ein grosses Verlangen nach Autonomie auf. Es ist ihnen wichtig, sich selbstständig zu organisieren, zu kochen, zu putzen und teilweise auch ihre Wohnung zu gestalten. Sie haben beispielsweise Tutti entdeckt und sich einen gemütlichen Balkon mit Gratismöbeln eingerichtet. Wir haben beim Transport geholfen. 

Tobias Niederhauser
Tobias Niederhauser

Wie wirkt sich die Erfahrung mit diesen jungen Menschen auf Sie selbst aus?

Mir zeigt der Schutzstatus S, dass es möglich ist, geflüchtete Menschen in der Schweiz mit Würde zu behandeln. Das Erfahrene bestärkt meine eigene, kritische Haltung gegenüber dem aktuellen Asylsystem. Bei der Arbeit wird mir noch bewusster, wie wichtig diese Möglichkeiten für alle Geflüchteten sind: Das Recht auf Bewegungsfreiheit, Mobilität, Bildung und auch der Zugang zum Arbeitsmarkt. Als Menschenrechtsprofession hat die Soziale Arbeit die Pflicht gemeinsam mit ihren Klient*innen die Wahrung der Menschenrechte einzufordern. Der Schutzstatus S ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung. Ich erwarte, dass sich die Menschen, die Geflüchtete betreuen, stärker in den gesellschaftlichen Diskurs über den Umgang mit Geflüchteten einbringen. Es macht mich wütend, dass einige politische Kräfte diesen Schutzstatus S bereits wieder in Frage stellen, und ich nütze für mich diese Wut und meine Erfahrungen aus der Praxis, um mich noch entschlossener für die Rechte der Geflüchteten einzusetzen. 

Die Erfahrung mit den jungen Menschen erlebe ich als sehr bereichernd. Wir tauschen gegenseitig Wissen aus, beispielsweise über die Geschichte der jeweiligen Länder, die Bildungssysteme oder die Gepflogenheiten. Und für mich persönlich hat sich ein Arbeitsfeld aufgetan, welches ich ohne den Krieg in der Ukraine wahrscheinlich nicht kennengelernt hätte.

Interview: Beatrice Schild, Kommunikation 

 

Persönlicher Steckbrief

Departement

Soziale Arbeit

Studiengang

Bachelor in Sozialer Arbeit

Semester

aktuell im 7. Semester