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Zehn Jahre Kindes- und Erwachsenenschutzrecht: ein erfolgreicher Hürdenlauf
05.01.2023 Am 1. Januar 2013 trat das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft – eine weitreichende Reform im schweizerischen Sozialwesen. Zum zehnjährigen Jubiläum reflektieren wir gemeinsam mit Fachpersonen aus der Praxis: Welche Hürden wurden gemeistert, wo stehen wir heute, und was steht uns noch bevor?
Die Ablösung des alten, seit der Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs anno 1912 kaum veränderten Vormundschaftsrechts war eine Jahrhundertreform. Die Praxis, Expert*innen sowie die Politik waren sich einig: Das Recht sollte den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen und Anschauungen angepasst werden. Die Entscheidbehörden wurden professionalisiert, die Selbstbestimmung gestärkt und die Massnahmen flexibilisiert. Bald zeigte sich, wie anspruchsvoll es war, die Neuerungen umzusetzen und diverse Hürden zu überwinden. Die Reform war jedoch insgesamt ein Meilenstein: namentlich für und durch die Soziale Arbeit. Einige der Neuerungen und Hürden möchten wir noch einmal genauer in Erinnerung rufen.
Selbstbestimmung und Massschneidern im Zentrum
Ein grosser Fortschritt ist, dass heute der Selbstbestimmung ein zentraler Stellenwert zukommt. Dies zeigt sich im neuen Recht an der Regelung der eigenen Vorsorge und der gesetzlichen Vertretungsrechte von Verwandten im Fall der Urteilsunfähigkeit der betroffenen Person, beispielsweise aufgrund einer Demenz. Damit können behördliche Massnahmen häufig vermieden werden. Doch auch wenn die KESB eingreift, hat sie die Selbstbestimmung zu achten. Dies erfolgt durch die Anordnung «massgeschneiderter» Beistandschaften: Es wird nur so viel eingegriffen wie nötig. Die Beistandsschaft wird also an die Bedürfnisse der betroffenen Person angepasst. Sodann werden für die Beistandschaften wichtige sozialarbeiterische Grundsätze festgehalten. So sollen zum Beispiel Beistandspersonen mit der verbeiständeten Person möglichst ein Vertrauensverhältnis aufbauen und auf deren Meinung und Lebensgestaltungswillen Rücksicht nehmen.
Was im Prinzip klar und überzeugend klingt, musste und muss im Einzelfall erst erarbeitet werden. Manche offenen Fragen sind inzwischen geklärt, bei anderen wird weiterhin um Antworten gerungen, etwa: Wie stark individualisiert und detailliert soll die «Massschneiderung» einer Massnahme erfolgen? Wie weit sollen die den Betroffenen nahestehenden Personen in das Verfahren vor der KESB einbezogen werden?
Die KESB arbeitet interdisziplinär
Sozialarbeitende sind bei Abklärungen und Mandatsführungen im Kindes- und Erwachsenenschutz fest eingebunden. Sie liefern der KESB Grundlagen für ihre Entscheide und setzen diese als Beistandspersonen um. Auch in den Behörden ist die Soziale Arbeit vertreten: Sozialarbeitende leiten Verfahren und sind für Entscheide verantwortlich. Dabei arbeiten sie insbesondere mit Jurist*innen zusammen, mit denen sie das Ziel teilen, Kinder und Erwachsene zu schützen. Jurist*innen legen dabei den Fokus auf die formale Korrektheit des Verfahrens und der Entscheide. Sozialarbeitende sind methodisch gut ausgebildet und konzentrieren sich beispielsweise auf die vertrauensvolle Beziehung zu den Betroffenen und beziehen das Umfeld systemisch ein. Im Idealfall profitieren beide Disziplinen voneinander. Wichtig ist, keine Wertung vorzunehmen, sondern die Soziale Arbeit und das Recht als gleichberechtigte Disziplinen mit unterschiedlichen Fokussen anzuerkennen, die voneinander lernen und sich ergänzen.
Um eine Kultur der Interdisziplinarität zu etablieren, müssen zahlreiche Hürden überwunden werden. Dies ist – wenig erstaunlich – nicht allen Behörden auf Anhieb gelungen. Es bleibt eine Herausforderung: Verfahren sollen juristisch einwandfrei geführt werden und zugleich pragmatisch, lösungsorientiert und für die Betroffenen nachvollziehbar sein.
Gelingende Kommunikation mit der Öffentlichkeit und Vertrauen der Klientel
Die KESB sah sich in den ersten Jahren ihres Bestehens teils massiver medialer Kritik ausgesetzt. Besonders ausgeprägt war dies nach dem tragischen «Fall Flaach» im Jahr 2015. Der zuständigen KESB wurde nach einem Fall von Kindstötung von verschiedenen Seiten Mitschuld an den Ereignissen gegeben. Ein Gutachten der Justizdirektion Zürich räumte im Nachgang einen ursächlichen Zusammenhang aus. Dennoch wurde in der Folge sogar eine (Anti-)KESB-Initiative lanciert, die jedoch noch im Sammelstadium scheiterte. Die negative Publizität – bis hin zu offenen Anfeindungen, etwa in Online-Foren – stellte für die KESB-Mitarbeitenden eine erhebliche Belastung dar. Sie waren dadurch jedoch nicht nur persönlich betroffen: Durch die beschädigte Reputation ihrer Organisation wurde auch das Vertrauen der Klientel in die KESB beeinträchtigt. Deren kritische Haltung stellt auch heute noch eine Hürde beziehungsweise eine Herausforderung für eine gelingende Zusammenarbeit dar.
Behördenmitglieder sind gefordert, ihre Klientel unter erschwerten Bedingungen für Hilfestellungen zu gewinnen. Hier können namentlich Fachpersonen der Sozialen Arbeit mit ihren fachlichen und kommunikativen Kompetenzen in der Arbeit im Zwangskontext einen wichtigen Beitrag leisten. Zu mehr Vertrauen und Verständnis trägt auch eine adressatengerechte schriftliche Kommunikation bei. Über die individuelle Fallarbeit hinaus sind sodann weiterhin Investitionen in die Öffentlichkeitsarbeit der KESB notwendig. Hier finden sich zunehmend innovative Ansätze – von Broschüren über die Produktion von Podcasts bis hin zu animierten Kurzfilmen.
Die Ressourcenfrage als Dauerbrenner – nicht nur bei der KESB
Knappe personelle Ressourcen waren namentlich in der Anfangszeit der neu geschaffenen Behörden eine grosse Herausforderung. Der Personalbestand reichte bestenfalls, um das normale Tagesgeschäft zu bewältigen. Es musste jedoch nicht nur ein grosses Fallvolumen bearbeitet, sondern auch eine neue Organisation in den jeweiligen KESB aufgebaut und eine kohärente Praxis etabliert werden. Dies wirkte sich entweder auf die Verfahrensdauer aus – rasch bildeten sich Pendenzenberge – oder die Zeit musste gekürzt werden, die pro Dossier investiert werden konnte. In manchen Kantonen wurden angesichts dieser prekären Situation die personellen Ressourcen für die KESB aufgestockt.
Die Ressourcenausstattung ist und bleibt ein Dauerthema – auch bei den weiteren Akteur*innen, die im Kindes- und Erwachsenenschutz zusammenwirken. Professionalität und Qualität haben einen Preis, und ein KESB-Entscheid ist letztlich nur so gut, wie er auch umgesetzt werden kann. In diesem Sinne sind die im Juni 2021 von der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) veröffentlichten Empfehlungen zur Organisation von Berufsbeistandschaften ein wichtiges fachliches und politisches Signal: Eine professionelle Mandatsführung bedingt (auch) eine angemessene, das heisst gegenüber dem heutigen Stand deutlich geringere Anzahl Falldossiers pro Beistandsperson – und eine entsprechende Finanzierung des erforderlichen Personalbestandes.
Ausblick
Die KOKES-Empfehlungen sehen einen Zeitrahmen von zehn bis fünfzehn Jahren zur Weiterentwicklung der Berufsbeistandschaften vor. Diese und die vier ausgeführten «Hürden» stehen beispielhaft für unsere Botschaft: Die Umsetzung einer grossen Reform braucht Zeit, Beharrlichkeit und viel Energie. Die Akteur*innen in der Praxis – unterstützt durch Expert*innen in Lehre, Weiterbildung und Forschung – sind somit weiterhin gefordert, sich für einen zeitgemässen, professionellen Kindes- und Erwachsenenschutz zu engagieren, der den Betroffenen dient.
Dieser Artikel ist im Januar 2023 im Printmagazin «impuls» erschienen.