Aggression im Gesundheitswesen

Ein Thema, das uns alle angeht.

Aggression und Gewalt seitens Patientinnen/Patienten oder/und deren Angehörigen ist im Gesundheitswesen schon lange bekannt und weiter verbreitet als gemeinhin angenommen wird. Wenig bekannt ist, dass insgesamt ein Viertel aller Aggression am Arbeitsplatz im Gesundheitswesen stattfindet (1). Gesundheitsfachpersonen sind demnach, nach Polizei und Sicherheitsleuten, unter allen Berufen am zweithäufigsten von Aggressions- und Gewaltereignissen am Arbeitsplatz betroffen. Abhängig von den Versorgungsbereichen sind Gesundheitsfachpersonen unterschiedlichen physisch und psychisch verletzenden und belastenden Interaktionen mit Patientinnen/Patienten und/oder deren Angehörigen ausgesetzt. Studien zeigen auf, dass die Folgen solcher verletzenden Ereignisse insgesamt unterschätzt werden und Vorgesetzte sowie Kaderpersonen über zu wenig Wissen zum Thema verfügen. Daher ergreifen diese häufig unzureichende Massnahmen, um systematische Präventionsstrategien einzuführen oder Gesundheitsfachpersonen effektiv im Umgang mit Aggression und Gewalt seitens Patientinnen/Patienten und/oder deren Angehörigen zu unterstützen (2). Dies hat weitreichende Folgen, die sich auch auf die Sicherheit der Patientinnen und Patienten sowie die Zufriedenheit des Personals am Arbeitsplatz negativ auswirken können.

Aggression, Gewalt und zugehörige Verhaltensweisen sind in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen wie beispielsweise Anthropologie, Biologie, Ökonomie, Politikwissenschaft, Kommunikationsforschung oder auch Soziologie untersucht worden. Je nach Fachdisziplin, welche sich mit Aggression und Gewalt auseinandersetzten sind in der Literatur unterschiedliche Definitionen zu finden (3). Bisher gibt es daher keine allgemein akzeptierte Definition oder Theorie zur Aggression im Gesundheitswesen. Wichtig für Gesundheitsfachpersonen scheint allerdings eine breite Definition. Denn ob eine Handlung gezielt ausgeübt wird (Aggression) oder ungerichtet stattfindet (Gewalt), kann für die Gesundheitsfachperson gleichermassen verletzend und gefährlich sein. Aggression und Gewalt seitens Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörigen zeigt sich im Gesundheitswesen verbal, durch Beschimpfungen, Drohungen, obszöne Bemerkungen, persönliche Beleidigungen usw. und durch physische Formen, wie Schlagen, Kratzen, Beissen, Spucken, Würgen sowie durch Einsetzen von Gegenständen als Schlag- oder Stichwaffen.

Als Aggression und Gewalt seitens Patientinnen und Patienten und/oder deren Angehörigen wird jedes bedrohende verbale, nonverbale oder körperliche Verhalten gegenüber Gesundheitsfachpersonen oder der Umgebung bezeichnet (4).


Fragt man Gesundheitsfachpersonen, wie häufig sie im Berufsalltag beschimpft, bedroht oder gar körperlich angegriffen wurden und sich durch Aggression oder Gewalt durch Patientinnen/Patienten und/oder deren Angehörigen verletzt fühlten, so sind es gut fünfzig Prozent, die dies im letzten zwölf Monaten erlebt haben. Fast jede Gesundheitsfachperson erfährt solche Verletzungen im Laufe ihres Berufslebens. Diese Häufigkeit von Aggressions- und Gewaltereignissen gegen Gesundheitsfachpersonen ist weltweit und in allen klinischen Bereichen zu beobachten (5-7). Die Ursachen und Folgen von Aggressions-und Gewaltereignissen sind bei den Pflegeberufen am häufigsten untersucht; jedoch sind auch Medizinerinnen und Mediziner, Physiotherapeutinnen und –therapeuten, Hebammen usw. in unterschiedlichem Ausmass von dieser Aggression und Gewalt betroffen. Der entscheidende Faktor dafür, wie viel Aggression und Gewalt erlebt wird, scheint vom Versorgungs- bzw. Arbeitsbereich einer Gesundheitsfachperson abhängig zu sein (8).

«Aggressive Patienten machen Pflegepersonal das Leben schwer» - Beitrag in 10vor10 vom 31. Januar 2017
 


Die angewandte Forschung Pflege der BFH erforscht Aggression und Gewalt im Gesundheitswesen, um effiziente Strategien zur Reduktion dieser gefährlichen Herausforderung am Arbeitsplatz zu entwickeln, in der Praxis umzusetzen und zu evaluieren.


Die Abteilung angewandte Forschung und Entwicklung sowie Dienstleistung Pflege der BFH betreibt seit Jahren grundlegende Forschung zum Thema Aggression in der Pflege. Im Artikel «Aggression im Gesundheitswesen – Man beginnt erst langsam, sich mit dieser heiklen Thematik zu beschäftigen», erschienen im Kundenmagazin «Frequenz» 11/09, wird die Komplexität des Themas von Professor Dr. Sabine Hahn und Dr. Dirk Richter bündig erläutert.

Aktuelle Forschung

Frauengesundheit und Gewalt

Im Bereich der Frauengesundheit, das heisst der Gynäkologie und Geburtshilfe, werden unterschiedliche Formen von Gewalt unterschieden: Gewalt von Patientinnen und deren Angehörigen gegen Gesundheitspersonal, Gewalt von medizinischem Personal gegen Patientinnen oder Gewalt durch den Intimpartner. Besonders letzteres kann für betroffene Frauen vielfältige physische und psychische Verletzungen zur Folge haben, wie eine Literaturübersicht von Claudia Zbinden und Madeleine Bernet zeigt.

PERoPA – Ein internationales Forschungsprojekt in zwei Teilstudien

Ziel des PERoPA-Projekts ist es zu erfassen, wie Aggression seitens Patientinnen, Patienten und deren Besucherinnen, Besuchern in Spitälern und der Psychiatrie aus Sicht von Führungspersonen in der Pflege erlebt wird.

Angebot im Bereich Aggressionsmanagement

Forschungsergebnisse zum Thema Aggression werden an der BFH in praxisorientierten Schulungen für Personal im Gesundheitswesen umgesetzt. Ausserdem bietet die BFH eine wissenschaftliche Begleitung von Praxisprojekten in interdisziplinären Arbeitsgruppen.

Situationsorientiertes Kommunikationstraining für Berufstätige

Eine professionelle und wertschätzende Kommunikation gehört zu den unverzichtbaren Kompetenzen, um im Gesundheitsbereich tätig zu sein. Dazu bietet das Departement Gesundheit massgeschneiderte Schulungen im Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation an.

In Ihrem Berufsalltag gibt es immer wieder Situationen, in denen Ihre kommunikativen Kompetenzen speziell gefragt sind. Das Überbringen einer schwierigen Nachricht, das verständnisvolle Gespräch mit Menschen in einer Krise oder der klare Informationsaustausch mit den Berufskolleginnen und -kollegen in einer Stresssituation verlangen eine professionelle und klare Kommunikation.

Health Care Communication Design

Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Health Care Communication Design (HCCD) vereinigt verschiedene Forscherinnen und Forscher der Berner Fachhochschule (BFH). Sie befasst sich mit Problemstellungen rund um das Kommunikationsumfeld, die Architektur, die Gestaltung und die kommunikativen Praktiken im Gesundheitswesen. Im Rahmen von interdisziplinären Forschungsprojekten untersuchen Fachleute aus den Bereichen Kommunikationsdesign, Pflegewissenschaft und Architektur Lösungsmöglichkeiten und erarbeiten Grundlagenwissen in diesem Feld. Die Kooperation dreier Forschungsschwerpunkte der BFH ermöglicht so einen umfassenden Blick auf komplexe Fragestellungen im Gesundheitswesen.

Doktorat zum Thema Aggression in der Pflege

Am 20. Juni 2018 verteidigte Birgit Heckemann, wissenschaftliche Mitarbeiterin der angewandten Forschung und Entwicklung Pflege, erfolgreich ihre Dissertation zum Thema «Patient and Visitor Aggression in General Hospitals» an der Universität Maastricht, NL.

Birgit Heckemann absolvierte unter der Supervision von Prof. Dr. Sabine Hahn, Prof. Dr. Jos Schools und Dr. Ruud Halfens das internationale Doktorandenprogramm Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Universität Maastricht, Niederlande, der Medizinischen Universität Graz, Österreich und der Berner Fachhochschule. Ihre Studien wurden durch CAPHRI Care und dem Public Health Research Institute, Department of Health Services Research of Maastricht University in Zusammenarbeit mit der BFH durchgeführt. Die Dissertation ist als e-book verfügbar.

Project synopsis

Patient and visitor aggression (PVA) causes human suffering in all healthcare professions, with nurses being particularly severely affected. This thesis examines the nurse perspective with regards to why recommended strategies against PVA in German, Swiss and Austrian general hospitals often fail. The results depict an unsupportive attitude towards addressing PVA in many organisations, along with insufficient incident reporting and communication regarding PVA. Nurse managers often lack risk factor knowledge and coaching as well as counselling skills to support the staff. Nursing teams lack skills and knowledge to deal with PVA and its emotional impact. The dissertation shows that PVA is a pervasive but underestimated problem in many organisations.
Key words: Aggression, violence, general hospital, patient and visitor, nursing, strategy, implementation

Referenzen zum obigen Text

  1. ILO ICN WHO PSI, Workplace Violence in the Health Sector: Country Case Studies Research Instruments Survey Questionnaire (English). Joint Programme on Workplace Violence in the Health Sector. 2003, ILO/ICN/WHO/PSI: Geneva. p. 1-14.
  2. McKenna, K., Linking Service and Safety Together Creating Safer Places of Service. Strategy for Managing Work-related Aggression and Violence within the Irish Health Service. 2008: Health Service Executive Ireland.
  3. Bjorkly, S., Psychological Theories of Aggression: Principles and Application to Practice, in Violence in Mental Health Settings, D. Richter and R. Whittington, Editors. 2006, Springer Science and Business Media, LLC: New York. p. 27-46.
  4. Morrison, E., Violent psychiatric inpatients in a public hospital. Scholarly Inquiry for Nursing Practice, 1990. 4: p. 65-82.
  5. Hahn, S., et al., Patient and visitor violence in the general hospital, occurrence, staff interventions and consequences: a cross-sectional survey. Journal of Advanced Nursing, 2012.
  6. Jackson, D., J. Clare, and J. Mannix, Who would want to be a nurse? Violence in the workplace-a factor in recruitment and retention. J Nurs Manag, 2002. 10(1): p. 13-20.
  7. Farrell, G.A., C. Bobrowski, and P. Bobrowski, Scoping workplace aggression in nursing: findings from an Australian study. J Adv Nurs, 2006. 55(6): p. 778-87.
  8. Hahn, S., Patient and Visitor Violence in General Hospitals. 2012, Maastricht: Universitaire Pers Maastricht.

Einige Publikationen der Forschungsgruppe zum Thema

Heckemann, B., et al. (2017). Nurse managers: determinants and behaviours in relation to patient and visitor aggression in general hospitals. A qualitative study. Journal of Advanced Nursing 73(12): 3050-3060.

Hahn, S. (2016). Patienten- und Angehörigenaggression und -gewalt: Eine Herausforderung für Management und Leadership. [Patient and next of kin aggression: a challenge for management and leadership]. Pflegerecht - Pflegewissenschaft 1(4): 225-230.

Heckemann, B., Zeller, A., Hahn, S., Schols, J. M., & Halfens, R. J. G. (2015). The effect of aggression management training programmes for nursing staff and students working in an acute hospital setting. A narrative review of current literature. Nurse Education Today, 35, 212-219. doi:http://dx.doi.org/10.1016/j.nedt.2014.08.003

Peter, K., & Hahn, S. (2014). Aggressionserlebnisse junger Pflegefachpersonen im Akutspital: Eine qualitative Situationsanalyse. Jung Nurses and Experiences of Aggression: A Qualitative Content Analysis. Journal für Qualitative Forschung in Pflege- und Gesundheitswissenschaft, 1(1), 32-38.

Peter, K., & Hahn, S. (2014). Auswirkungen von Aggression im Akutspital. Krankenpflege, 12, 14-15.

Richter, D., Metzenthin, P., & Hahn, S. (2013). Patientenaggression in somatischen Akutspitälern. Eine explorative qualitative Studie. Pflegenetz Heft 2/2013, 21-25 pflegenetz, o.J.(2), 21-25.

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