- Forschungsprojekt
ReachOut
Das Projekt ReachOut explorierte Bedürfnisse und Strategien zur Förderung, Erhaltung oder Wiederherstellung psychischer Gesundheit bei den als besonders schwer erreichbar geltenden Gruppen der Obdachlosen und Sans-Papiers.
Steckbrief
- Institut(e) Innovationsfeld Psychosoziale Gesundheit
- Forschungseinheit(en) Innovationsfeld Psychosoziale Gesundheit
- Förderorganisation Schweizerischer Nationalfonds SNF
- Laufzeit 01.03.2021 - 31.12.2022
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Projektmitarbeitende
Sabrina Laimbacher
Sabrina Gröble - Schlüsselwörter Gesundheitskompetenz, Psychiatrie, Gesundheitliche Ungleichheit, Obdachlosigkeit, Sans-Papiers, Undokumentierte Migrant*innen, Ethnographie, psychosoziale Gesundheit, Zugangshürden, schwer erreichbare Zielgruppen
Ausgangslage
Gesundheitliche Ungleichheiten bestehen auch in wohlhabenden Ländern wie der Schweiz. Die Chancen auf ein gesundes Leben hängen stark von wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen Faktoren ab – dies gilt auch für die psychische Gesundheit.
Menschen mit sozialen Benachteiligungen sind überproportional häufig von psychischen Erkrankungen betroffen und stossen oft auf Zugangsbarrieren zu psychiatrischen und anderen Gesundheitsangeboten. Besonders betroffen davon sind Obdachlose und Sans-Papiers. Obwohl bei diesen Gruppen von einem erhöhten Unterstützungsbedarf ausgegangen wird, besteht eine Diskrepanz zwischen der Verfügbarkeit und der tatsächlichen Nutzung von Gesundheitsangeboten.
Obdachlose und Sans-Papiers gelten als besonders schwer erreichbar für Gesundheitsangebote. Studien deuten darauf hin, dass dies auf Informationslücken, das Fehlen bedarfsgerechter Angebote oder Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem zurückzuführen ist. Zudem erleben Betroffene häufig Stigmatisierung oder befürchten negative Konsequenzen bei der Inanspruchnahme solcher Angebote. In der Schweiz ist derzeit wenig darüber bekannt, wie die beiden Zielgruppen den Zugang zu (psychiatrischen) Unterstützungsangeboten wahrnehmen und welche Bedürfnisse und Strategien sie in Bezug auf die Förderung, Erhaltung und Wiederherstellung ihrer (psychischen) Gesundheit haben. ReachOut hatte zum Ziel, diesen Forschungsfragen nachzugehen.
Vorgehen
Die zwei Bevölkerungsgruppen der Obdachlosen und Sans-Papiers, die in ReachOut im Fokus standen, sind auch für die Forschung schwer erreichbar. Um einen persönlichen Zugang zu diesen Menschen zu erhalten, wurde ein aufsuchender ethnografischer Forschungsansatz gewählt, der sich flexibel an ihre Lebenswelten und Gewohnheiten anpasste. Längere Feldaufenthalte gaben den Forschenden ausreichend Zeit, Vertrauen aufzubauen und Beziehungen zu den Zielgruppen zu knüpfen. Dabei wurde eng mit Schlüsselorganisationen und Fachpersonen zusammengearbeitet.
Durch teilnehmende Beobachtungen in verschiedenen, speziell auf die Zielgruppen ausgerichteten Unterstützungsangeboten konnten ethnografische Gespräche mit den Betroffenen über ihre Bedürfnisse und Strategien im Kontext psychischer Gesundheit geführt werden. Ergänzend fanden Gespräche mit Fachpersonen statt, um weitere Einblicke zu gewinnen. In konsekutiven Workshops mit beteiligten Personen der verschiedenen Feldorte wurden die Ergebnisse diskutiert und u.a. der weitere Forschungsbedarf abgeleitet.
Ergebnisse
Ergebnisse der Bevölkerungsgruppe Obdachlose
Manche Menschen ziehen sich bewusst aus der Gesellschaft zurück, andere werden unfreiwillig obdachlos. Viele Betroffene leben in prekären Verhältnissen, sind Armut, Gewalt und Witterung ausgesetzt, was u.a. auch eine Frühalterung begünstigt.
Der Weg aus der Obdachlosigkeit ist oft schwierig und zudem sind psychische Erkrankungen weit verbreitet. Betroffene schätzen ihre psychische Gesundheit allerdings oft anders ein als Fachpersonen und fühlen sich durch Diagnosen «abgestempelt», was zu Misstrauen führt und soziales Rückzugsverhalten begünstigt. Gesundheitsangebote werden daher oft gemieden und unkonventionelle Strategien angewendet, um sich um die eigene Gesundheit zu kümmern. Der Erhalt der eigenen Unabhängigkeit ist für die Betroffenen dabei zentral.
Stimmen von Betroffenen
Ergebnisse der Bevölkerungsgruppe Sans-Papiers
Sans-Papiers führen ein Leben im Verborgenen, das geprägt ist von der stetigen Angst vor Polizeikontrollen und Ausschaffung. Dies schränkt ihre Bewegung im öffentlichen Raum und gesellschaftliche Teilhabe stark ein. Sie berichteten von omnipräsenten psychischen Belastungen wie Ängste, Depressionen, Einsamkeit und Traumatisierungen, die durch ihre prekären Lebensbedingungen ohne Aufenthaltsbewilligung zusätzlich verstärkt werden. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für Sans-Papiers einerseits stark eingeschränkt, andererseits werden Angebote, die zugänglich sind, aber auch aus Angst gemieden. Persönliche Netzwerke, Religion und Spiritualität haben für viele Betroffene einen wichtigen Stellenwert in der Bewältigung psychischer Probleme.
Stimmen von Betroffenen
Zugang zur Gesundheitsversorgung
Obwohl sowohl bei Obdachlosen als auch Sans-Papiers psychische Probleme weit verbreitet sind, erleben sie diverse Zugangshürden zur Gesundheitsversorgung, und aus Angst oder Misstrauen nehmen sie die Angebote häufig nur dann in Anspruch, wenn es unvermeidbar ist. Damit gehen sie mitunter hohe Gesundheitsrisiken ein und fühlen sich dazu gezwungen, den bestehenden Leidensdruck auszuhalten. Professionelle Unterstützung suchen und finden die Betroffenen meist ausserhalb regulärer Versorgungsangebote, z.B. innerhalb sozialer Netzwerke. Für eine professionelle Unterstützung wünschen sie sich niederschwellig zugängliche, kontinuierliche und alltagsnahe Angebote, und dass man ihnen respektvoll begegnet.
Ausblick
Aus den Ergebnissen des Projekts ReachOut sind zwei Folgeprojekte hervorgegangen:
Projekt CONNECT
In der Schweiz ist bisher nur wenig bekannt über das Älterwerden in der Obdachlosigkeit. Das Projekt CONNECT hat zum Ziel, multiperspektivische Erkenntnisse von Betroffenen, Fachpersonen und dem sozialen Umfeld zu gewinnen, um mehr darüber zu erfahren, wie sich der Prozess des Älterwerdens auf die psychische Gesundheit, das Wohnen und die sich verändernden Unterstützungsbedürfnisse auswirkt. CONNECT möchte damit einen Beitrag leisten zur (Weiter)Entwicklung bedürfnisorientierter Angebote für älterwerdende Menschen ohne Obdach. Ein Vorprojekt wurde bereits erfolgreich durchgeführt.
Projekt (in)visible
Das Projekt (in)visible zielt darauf ab, die Gesellschaft für Lebensumstände und psychischen Belastungen von Sans-Papiers zu sensibilisieren. Gleichzeitig soll auch den Betroffenen das Thema psychische Gesundheit nähergebracht werden. Damit reagiert das Projekt auf ein in ReachOut wiederholt geäussertes Bedürfnis der involvierten Sans-Papiers, in ihrer Lebenssituation «gesehen» zu werden. Der Start eines Vorprojekts ist für das Frühjahr 2025 geplant.
Publikationen und Vorträge
Publikationen
Vorträge
• Symposium am Swiss Symposium on Refugee and Migrant Health (19. September 2023, Bern)
• Symposium am Dreiländerkongress Pflege in der Psychiatrie (15. September 2023, Bielefeld)
• Workshop im Rahmen der 5. Nationalen Tagung Gesundheit & Armut: Psychische Gesundheit von Armutsbetroffenen stärken – Barrieren in der Versorgung abbauen (5. Juni 2023, Bern)
• Vortrag am Horatio Congress (European Psychiatric Nurses) (13.-14. März, 2023)
• Vortrag am Dreiländerkongress Pflege in der Psychiatrie (19. September 2022, Wien)
• Beitrag QuPuG Summer of Science (25. Juli 2022, Wien)
• Vortrag am Treffpunkt Gesundheitsforschung Pflege (6. April 2022, Bern)
• Workshop im Rahmen der 12. Fachtagung Ambulante Psychiatrische Pflege (25. März 2022, St. Urban)