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«Care@home wird zu tragender Säule im Gesundheitssystem»
05.09.2024 Care@home verheisst eine neue Form von Behandlung zu Hause, die gleichwertig ist mit jener im Spital. Die BFH ist daran, ein Kompetenzzentrum für Care@home aufzubauen. Ein Gespräch über mögliche Anwendungen.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Kanton Bern will die Gesundheitsversorgung mit neuen Modellen weiterentwickeln.
- Ein solches Modell, das ambulante häusliche und stationäre Behandlungen zusammenbringt, ist Care@home.
- Die BFH hat gemeinsam mit 50 Partnerorganisationen die Grundlagen für ein Kompetenzzentrum Care@home geschaffen.
- Bis in vier Jahren könnten erste Modelle von Care@home in Betrieb gehen.
- Eva Cignacco Müller von der BFH beleuchtet im Gespräch die Chancen von, aber auch die Herausforderungen für Care@home.
Care@home – der Begriff lässt Spielraum für Interpretationen. Können Sie ihn in einem Satz ausdeutschen?
Der Begriff steht für eine Behandlung von Patient*innen zu Hause durch Fachpersonen und gestützt auf technische Anwendungen, die gleichwertig ist wie jene, die in einem Spital erfolgt.
Im Kanton Bern soll ein Kompetenzzentrum für Care@home entstehen. Wie kam es zu der Idee?
Der Regierungsrat des Kantons Bern hat eine Task Force Medizin eingesetzt, deren Ziel es ist, den Medizinalstandort Bern erfolgreich zu positionieren.
Diese Task Force hat die BFH beauftragt, gemeinsam mit Partnerorganisationen Modelle zu entwickeln, um die Gesundheitsversorgung weiterzuentwickeln hin zu einem System, das ambulante und stationäre Dienstleistungen zu einer durchgehenden Behandlungskette zusammenfügt.
Die Modelle einer sogenannten integrierten Gesundheitsversorgung sollen effizient, kosten- und qualitätsbewusst sein. Daraus ist die Idee eines Kompetenzzentrums Care@home entstanden.
Warum sich die BFH um Care@home kümmert
Care@home ist einer von fünf Schwerpunkten im strategischen Themenfeld Caring Society der BFH. Durch den Ansatz, ambulante und stationäre Behandlungen zusammenzuführen, haben Modelle von Care@home das Potenzial, zu einem wichtigen ergänzenden Angebot im Gesundheitswesen zu werden.
Damit sie wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind, braucht es soziale und technische Voraussetzungen. Im Schwerpunktthema Care@home untersucht die BFH, welche Formen von Pflege zu Hause bereits bestehen, welche künftig machbar sind und wie sie Betroffenen sowie ihrem sozialen Umfeld einen Mehrwert bringen.
Die BFH ist federführend beim Aufbau eines Kompetenzzentrums Care@home im Kanton Bern. Dabei arbeitet sie mit 50 Partnerorganisationen aus der Praxis zusammen.
Care@home ist auch Thema am diesjährigen BFH-Tag vom 19. November, der unter dem Titel «Caring Society: Gemeinsam Sorge tragen» steht.
Welche Ziele sollen mit dem Kompetenzzentrum erreicht werden?
Aufgabe des Kompetenzzentrums ist es, Modelle für neue dezentrale Versorgungskonzepte im Gesundheitswesen zu entwickeln, zu testen und auszuwerten. Diese Modelle sollen die Perspektive und Bedürfnisse der Patient*innen einbeziehen, sie müssen aber auch effizient, qualitativ hochstehend und sicher sein. Wichtig für den Kanton Bern ist, dass das Kompetenzzentrum die medizinische Versorgung der Bevölkerung in Randregionen mitberücksichtigt.
Das Zentrum ist nicht bloss eine einzelne praktische Anwendung von Care@home, sondern eine breit abgestützte Initiative und ein bedeutender Treiber von Innovation im Gesundheitswesen – nicht nur im Kanton Bern, sondern landesweit. Es zeichnet sich durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Wissenschaft, Industrie und Praxis aus, wodurch eine starke Innovationskraft entsteht. Das Netzwerk umfasst mittlerweile 50 Partnerorganisationen aus allen Bereichen des Gesundheitswesens.
Wo steht das Vorhaben heute?
In den vergangenen anderthalb Jahren hat das Projektteam viel konzeptionelle Arbeit geleistet und die Idee von Care@home breit abgestützt, unter anderem durch Workshops, in denen sich die Partnerorganisationen vernetzen konnten. Zudem haben wir dank der Anschubfinanzierung durch den Kanton erste Ideen für Forschungsprojekte unterstützen und die Studien damit auf den Weg bringen können.
Was es noch braucht, ist das grüne Licht sowohl des Regierungsrats als auch des Grossen Rats, damit das Kompetenzzentrum seine Arbeit aufnehmen kann. Diese Entscheide fallen zum Ende des Jahres.
Welche Rolle spielt die BFH bei Care@home?
Neben dem Auftrag, das Kompetenzzentrum aufzubauen und Forschungsprojekte für Care@home-Modelle zu unterstützen, spielt die BFH bei der Vernetzung der verschiedenen Partnerorganisationen eine zentrale Rolle.
Längerfristig geht es darum, Care@home zu einem Standardangebot in der Gesundheitsversorgung zu entwickeln und das Kompetenzzentrum in eine definitive Organisationsform zu überführen. Dieser letzte Schritt ist für die Jahre 2028 bis 2030 vorgesehen. Ob das Kompetenzzentrum dann in der BFH verbleibt oder eine eigenständige Einheit wird, ist noch offen.
Wie muss ich mir als Patient*in eine Behandlung durch Care@home vorstellen?
Care@home setzt auf drei Ebenen an. Die Modelle sollen erstens einen Aufenthalt im Spital möglichst vermeiden oder zweitens einen solchen verkürzen helfen. Drittens soll Care@home den rechtzeitigen Zugang der Bevölkerung in Randregionen des Kantons zu Leistungen der Gesundheitsversorgung sicherstellen.
Nehmen wir zum Beispiel an, Sie leiden an einer chronischen obstruktiven Lungenerkrankung. In diesem Fall lassen Sie bei Ihrem/Ihrer Hausärzt*in oder im Spital abklären, ob Sie für eine Behandlung durch Care@home in Frage kommen. Ist dem so, kommen die Fachleute zu Ihnen nach Hause, wo sie die genau gleiche Behandlung erhalten wie im Spital.
Damit dies gewährleistet ist, braucht es technologische Anwendungen, die es ermöglichen, Ihre Gesundheitsdaten wie Blutdruck, Sauerstoffsättigung usw. zu erfassen und sie elektronisch ans Spital zu übermitteln. Dadurch wird gewährleistet, dass Sie als Patient*in jederzeit überwacht sind und bei Bedarf sofortige medizinische Interventionen eingeleitet werden können.
Damit Modelle für Care@home funktionieren können, müssen sie soziale und technische Voraussetzungen erfüllen. Haben Sie Beispiele dafür?
Aus Studien ist bekannt, dass Angehörige und Bekannte eine wesentliche Rolle spielen für einen Erfolg von Care@home. Bei Patient*innen, die alleine leben und kein tragendes soziales Netz haben, lassen sich Care@home-Modelle schwer einsetzen.
Angehörige übernehmen eine wichtige Funktion in der Betreuung oder Überwachung der zu behandelnden Person. Da geht es um das Verabreichen von Medikamenten, die Ernährung, die Beobachtung von Symptomen wie Fieber oder die Begleitung auf die Toilette, um einige Beispiele zu nennen.
Natürlich braucht es auch die technischen Einrichtungen, um die erforderlichen Gesundheitswerte zu erfassen und den Zustand der zu behandelnden Person jederzeit durch Fachleute aus der Ferne verfolgen zu können.
Wer profitiert von Care@home?
Aus Ländern, die Care@home eingeführt haben, wissen wir, dass das Modell eine hohe Wirksamkeit aufweist und bei Patient*innen gute Ergebnisse erzielt. Von daher lässt sich sagen, dass Care@home vor allem den Patient*innen Vorteile bietet.
Auch ist bekannt, dass Menschen im gewohnten heimischen Umfeld besser genesen als in einem Spital. Für Angehörige und Bekannte bringt Care@home dank der Unterstützung durch medizinisches Fachpersonal eine Entlastung im Alltag.
Es kann nicht sein, dass ein Spital das Geld erhält und die Angehörigen zu Hause mindestens einen Teil der Arbeit unentgeltlich erledigen.
Gibt es auch Verlierer?
Mit Care@home geht eine gesellschaftliche respektive ethische Diskussion einher. Care@home beinhaltet das Risiko, dass es zu einer Umverteilung von professioneller Behandlungsarbeit zu unbezahlter, informeller Pflege durch Angehörige und Bekannte kommt.
Die Diskussion darüber muss geführt werden. Sonst könnte die Arbeit am Schluss weitgehend an Frauen hängen bleiben. Denn sie sind es, die noch immer mehrheitlich häusliche und pflegerische Aufgaben übernehmen.
Wo liegen die grössten Herausforderungen für Care@home?
Eine grosse Herausforderung stellt die Finanzierung dar. Care@home passt in keines der heutigen Finanzierungsmodelle im Gesundheitswesen, da es eine Mischung zwischen ambulanter und stationärer Behandlung ist.
Es kann nicht sein, dass ein Leistungsträger wie ein Spital das Geld erhält und die Angehörigen zu Hause mindestens einen Teil der Arbeit unentgeltlich erledigen. Damit das System wie angestrebt kosteneffizient ist, braucht es eigene, innovative Modelle für die Abgeltung der Leistungen.
Weitere Herausforderungen haben sich in Studien aus dem Ausland beim Medikamentenmanagement gezeigt. Obwohl Angehörige instruiert worden sind, unterlaufen ihnen bisweilen Fehler, wenn sie Medikamente verabreichen, etwa bei der Dosierung oder beim Abgabezeitpunkt.
Weitere Schwierigkeiten liegen darin, dass die Angehörigen nicht realisieren, dass ein*e Patient*in Zeichen von falscher oder mangelnder Ernährung zeigt oder erst spät reagieren, nachdem sich der Gesundheitszustand der Person zu verschlechtern begonnen hat.
Über Prof. Dr. Eva Cignacco Müller
Eva Cignacco Müller ist Mitglied des neunköpfigen Projektteams von Care@home innerhalb der BFH.
Sie ist Professorin für Pflegewissenschaft und Co-Leiterin des Fachbereichs Geburtshilfe sowie des Master-Studiengangs für Hebammen im Departement Gesundheit.
Eva Cignacco Müller war die erste Hebamme in der Schweiz, die 2007 ihr Studium mit einem Doktorat und 2013 mit einer Habilitation abschloss. Sie lehrt und forscht im Bereich der Hebammenwissenschaft und hat mehrere Bücher zu Geburtshilfe sowie Pflege von Früh- und Neugeborenen herausgegeben.
Sie sehen in Care@home ein Modell für eine integrierte Gesundheitsversorgung – haben wir damit das Wundermittel zur Lösung der Probleme im Gesundheitswesen?
Ich bin keine Anhängerin von Wundermitteln, denn sie versprechen viel, vermögen aber nicht immer alles einzulösen. Care@home ist ein vielversprechendes Modell, das einiges zur Lösung der drängendsten Probleme im Gesundheitswesen beitragen kann.
Der Ansatz des partizipativen Miteinanders zwischen Patient*in, Angehörigen und Fachleuten schafft eine neue Form von Beziehung auf Augenhöhe, was sich sowohl auf die Arbeit der Fachleute als auch die Genesung der Patient*innen positiv auswirkt.
Bis wann könnten erste Anwendungen von Care@home im Kanton Bern den Betrieb aufnehmen?
Ich rechne damit, dass wir bis in vier Jahren erste Pilotversuche durchgeführt haben werden und die Finanzierung der Modelle geklärt sein wird.
Blicken wir voraus: Wie sieht Ihre Vision von Care@home für das Jahr 2034 aus?
Care@home wird in zehn Jahren eine tragende Säule in unserem Gesundheitssystem sein. Eine Säule, die durch personalisierte Behandlungsansätze und den Einsatz von moderner Technologie eine qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung zu Hause gewährleisten kann.
Die technologische Entwicklung bietet ein enormes Potenzial für neue Anwendungen wie Telemedizin, die Überwachung von Gesundheitswerten durch tragbare Geräte, so genannte Wearables, autonome Transporte von Medikamenten und einiges mehr. Care@home hat einen hohen Grad an Neuerungen und wird die Gesundheitsversorgung verändern.