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Hebammengeleitete Geburt: Ein Modell für die Zukunft?

22.10.2024 In der Schweiz übernehmen Hebammen selten eigenverantwortlich die Betreuung während Schwangerschaft und Geburt, obwohl Studien belegen, dass hebammengeleitete Geburten sicher sind und Vorteile bringen. Das Lindenhofspital in Bern gehört zu den wenigen Schweizer Kliniken, die dieses Modell anbieten.

Das Wichtigste in Kürze

  • In der Schweiz finden die meisten Geburten unter ärztlicher Leitung in einem Spital statt.

  • In anderen Ländern ist die Hebamme die erste Ansprechpartnerin der schwangeren Frau – von der ersten Konsultation bis zum Rückbildungskurs.

  • Wissenschaftliche Studien zeigen, dass hebammengeleitete Geburten sicher sind, weniger medizinische Eingriffe zur Folge haben und zu einer höheren Zufriedenheit bei den Betroffenen führen.

  • Das Lindenhofspital in Bern bietet hebammengeleitete Geburten an. Die BFH evaluiert das Angebot.

«Es ist bemerkenswert», sagt Fanny Mewes, «viele Schwangere sehen eine Hebamme erstmals, wenn sie mit Wehen ins Spital kommen!» Die wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule ist selbst Hebamme im Geburtshaus «Le Petit Prince» in Villars-sur-Glâne. Hier setzt man auf eine langfristige, persönliche Beziehung zwischen Hebamme, der Schwangeren und ihrer Familie. Diese Beziehung beginnt während der Schwangerschaft mit einem Erstgespräch und endet oft erst zum Ende der Stillzeit.

Fanny Mewes in Geburtshaus Petit Prince
Fanny Mewes in einem Zimmer des Geburtshauses «Le Petit Prince» in Villars-sur-Glâne.

Die Entbindung in einem Geburtshaus bildet in der Schweiz die Ausnahme. 95 Prozent der Geburten finden hier in einem Spital statt. Dabei ist in der Regel die Gynäkologin oder der Gynäkologe die wichtigste medizinische Bezugsperson während der Schwangerschaft. Hebammen kommen meist erst spezifisch bei der Geburt und im Wochenbett zu Einsatz. Das steht im Gegensatz zum Betreuungsmodell, wie es Fanny Mewes gewohnt ist. Hier ist die Hebamme die wichtigste Ansprechperson der Schwangeren. Sie führt die Schwangerschaftskontrollen durch und sie entscheidet, ob eine Ärztin oder ein Arzt zugezogen werden muss.

Im Ausland verbreitet

Dieses hebammengeleitete Geburtsmodell ist in skandinavischen Ländern, im Vereinigten Königreich oder in den Niederlanden Normalität. Die Entbindung findet zwar auch dort meist im Kreisssaal statt, doch es sind die Hebammen, die die Frauen während der Schwangerschaft betreuen und auch während der Geburt die Hauptverantwortung tragen. In Schweden führen Hebammen beispielsweise die Ultraschall-Untersuchungen durch – eine Kompetenz, die sie in der Schweiz nicht haben.

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass hebammengeleitete Geburten sicher sind, weniger medizinische Eingriffe zur Folge haben und zu einer höheren Zufriedenheit bei den beteiligten Personen führen. Tatsächlich sind die Kaiserschnittraten in den skandinavischen Ländern und in den Niederlanden auffallend tief: Kommt in der Schweiz rund jedes dritte Kind per Kaiserschnitt auf die Welt, so ist es in Skandinavien nur jedes sechste.

Im Rahmen eines zweijährigen Pilotprojekts bietet das Lindenhofspital in Bern ein hebammengeleitetes Betreuungsmodell an. Schwangere Frauen können wählen, ob die Schwangerschaftskontrollen durch eine Hebamme oder durch die Ärzteschaft erfolgen soll. Die Geburt findet im Lindenhofspital statt. Bei einem normalen Geburtsverlauf werden die betroffenen Frauen durch die diensthabende Hebamme betreut. Bei Bedarf steht jederzeit eine Ärztin oder ein Arzt zur Verfügung. Nach der Geburt werden Mutter und Kind auf der Wochenbettabteilung weiter von den Hebammen betreut. Ausser der kinderärztlichen Visite finden in der Regel keine weiteren Arztvisiten statt.

Die Lindenhofgruppe will damit eine aktive Rolle bei der Gewährleistung einer zeitgemässen geburtshilflichen Versorgung übernehmen und ihre Attraktivität für Frauen und Familien steigern. Daneben will sie auch eine attraktive Arbeitgeberin für Hebammen und Ärzt*innen sein, indem ihnen die Möglichkeit geboten wird, in einem innovativen Versorgungsmodell mitzuarbeiten.

Auch für die Hebammen erfüllender

Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit an der BFH begleitet Fanny Mewes das Betreuungsmodell im Lindenhof. Sie sieht viel Potenzial in der Integration von hebammengeleiteten Modellen auch in den Schweizer Spitälern: «Für mich ist das ein Schritt in die richtige Richtung.» Das hebammengeleitete Betreuungsmodell wäre für gesunde Frauen mit physiologisch verlaufenden Schwangerschaften eine gute Alternative, das zeigt die wissenschaftliche Evidenz. Zusätzlich würde aber auch das Gesundheitswesen profitieren, da Studien zeigen, dass hebammengeleitete Modelle kostengünstiger sind als das herkömmliche Versorgungsmodell unter ärztlicher Leitung. Und zu guter Letzt bereichern hebammengeleitete Modelle auch die Arbeit der Hebammen: «Als Hebamme ist es für mich erfüllender, die Frauen über eine längere Zeit zu betreuen», meint Fanny Mewes. Ihre Vision ist, dass die schwangere Frau ihre Hebamme nicht erst beim Blasensprung kennenlernt, sondern dass sie bereits zu Beginn der Schwangerschaft die erste Ansprechpartnerin ist.

Referenzen

  • Sandall, J., Soltani, H., Gates, S., Shennan, A. & Devane, D. (2016). Midwife‐led continuity models versus other models of care for childbearing women. In: The Cochrane Database of Systematic Reviews, 4(4). doi: 10.1002/14651858.CD004667.pub5
  • Scarf, V. L., Rossiter, C., Vedam, S., Dahlen, H. G., Ellwood, D., Forster, D., Foureur, M. J., McLachlan, H., Oats, J., Sibbritt, D., Thornton, C. & Homer, C. S. E. (2018). Maternal and perinatal outcomes by planned place of birth among women with low-risk pregnancies in high-income countries: A systematic review and meta-analysis. In: Midwifery, 62, S. 240–255. doi: 10.1016/j.midw.2018.03.024

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