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Moralischer Distress im Gesundheitswesen: Mythos oder Realität?

03.10.2024 Eine Vielzahl von Studien legt den Schluss nahe, dass moralischer Distress die Ursache für häufigen Jobwechsel, Burnout und verminderte Betreuungsqualität im Gesundheitswesen ist. Mit einer neuen Studie untersucht die BFH, ob dieser Schluss wirklich zutrifft.

Das Wichtigste in Kürze

  • Moralischer Distress bei Pflegefachpersonen führt zu Burnout, Jobwechsel und schlechterer Pflegequalität.

  • Die Definition und Messung des Moral Distress sind umstritten, es wird eine mögliche Überschätzung des Begriffes diskutiert.

  • Interventionen wie Ethik-Komitees und gute Kommunikation können Pflegefachpersonen entlasten.

Moral Distress bei Pflegefachpersonen

Eine aggressive und unnötige Behandlung am Lebensende. Eine tiefe Personalbesetzung, die die Sicherheit der Patient*innen gefährdet. Der fehlende Einbezug von Pflegefachpersonen bei wichtigen Entscheidungen. Mit solchen Beispielen beschrieb Jameton im Jahr 1984 moralischen Distress bei Pflegefachpersonen und prägte damit den Begriff nachhaltig. Nach Jameton wird dieser Distress in Situationen ausgelöst, in denen die Fachperson zwar weiss, was zu tun wäre, aber aufgrund institutioneller Zwänge nicht gemäss dieser Überzeugung handeln kann. Seither sind Tausende Studien zum Thema veröffentlicht worden. Sie legen dar, dass moralischer Distress in allen Gesundheitsberufen beobachtet werden kann, auch wenn er sich unterschiedlich zeigen mag. Die zunehmende Beachtung des Konzepts in der akademischen Literatur ist vor allem auf die Vielzahl von Studien zurückzuführen, die die langfristigen Folgen von moralischem Distress untersuchten. Zusammengefasst legen diese Studien nahe, dass bestimmte moralische Ereignisse psychischen Distress verursachen können, der wiederum langfristig zu negativen Folgen wie Burnout, häufigem Jobwechsel und einer verminderten Qualität in der Patientenbetreuung führt. Damit ist moralischer Distress nicht nur ein Problem für die Fachpersonen selbst, sondern auch für die Institutionen. 

Konzeptuelle Fragen ...

Der Vielzahl an empirischen Belegen für die negativen Folgen von moralischem Distress steht eine Reihe grundlegender konzeptioneller und methodischer Fragen gegenüber, die auch nach 40 Jahren Forschung und Debatten weiterhin ungeklärt sind. Während viele empirische Forscher*innen die enge Definition von moralischem Distress im Sinne Jametons bevorzugen, plädieren andere für eine erweiterte Definition, die auch Situationen umfasst, in denen Fachpersonen unsicher sind, welche Handlung die richtige ist. 

Die Debatte über die korrekte Definition von moralischem Distress mag auf den ersten Blick akademisch wirken. Deshalb wird argumentiert, dass der Fokus stärker auf klinische Interventionen gelegt werden sollte, die die Situation der Fachpersonen konkret verbessern können. Zwar hat das Bewusstsein für ethisch-moralische Fragen in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen, und Fachpersonen erhalten in vielen Institutionen Unterstützung durch klinische Ethik-Komitees. Dennoch bleibt die Frage offen, ob die Belastung durch moralische Konflikte tatsächlich abgenommen hat – oder ob moralischer Distress am Ende vielleicht gar keine klinische Relevanz hat.

Moral Distress bei einer Pflegefachperson

... und methodische Probleme

In einem kürzlich veröffentlichten Grundlagenpapier (Oelhafen et al., 2024) haben wir weitere Probleme der Definition und Messung von moralischem Distress aufgezeigt und verdeutlicht, dass die bisherigen Forschungsergebnisse auch andere Schlussfolgerungen zulassen. Erstens wird moralischer Distress häufig als isoliertes Konzept betrachtet, wodurch andere Ursachen für diese Belastung von vornhinein ausgeschlossen werden. Zweitens enthalten gängige Skalen Fragen, die moralischen Distress nicht in Reinform messen: Eine Pflegefachperson, die über einen «unsicheren» Personalbestand berichtet, leidet nicht nur unter moralischem Distress, sondern auch unter der hohen Arbeitsbelastung. Eine Hebamme, die sich unter Druck gesetzt fühlt, aus ihrer Sicht unnötige Behandlungen durchzuführen, leidet möglicherweise nicht nur wegen der Patientin, sondern auch, weil ihre Meinung nicht respektiert wird. 

Solche Fragen erfassen demnach auch andere Stressoren. Dies kann dazu führen, dass die Folgen von moralischem Distress überschätzt werden. Moralischer Distress könnte somit auch Ausdruck eines allgemeinen Gefühls mangelnder Anerkennung im Team oder durch Vorgesetzte sein, oder Folge der hohen Arbeitsbelastung oder der eingeschränkten Autonomie. Diese Faktoren werden in zahlreichen Studien der Arbeits- und Organisationspsychologie sowie der Ökonomie als belastend identifiziert und können unabhängig vom Arbeitssektor zu häufigem Jobwechsel, Burnout und verminderter Arbeitsqualität führen. 

Eine aktuelle Studie der BFH untersucht daher, ob moralische Ereignisse tatsächlich die negativen Folgen haben, die ihnen zugeschrieben werden, oder ob dieser Effekt überschätzt wird. Das Ziel ist es, zukünftige Interventionen gezielter auf die tatsächlichen Belastungen auszurichten. 
 

Interview zum Thema

Ethik im Klinikalltag: Zwischen Autonomie und moralischer Belastung

Prof. Dr. Settimio Monteverde, Co-Leiter der Klinischen Ethik am Universitätsspital Zürich und Dozent an der BFH, beleuchtet im Interview die Herausforderungen, denen sich Fachkräfte stellen müssen, und erklärt, wie eine offene Kommunikationskultur und gezielte Interventionen helfen können, moralischen Stress zu bewältigen.

Settimio Monteverde

Leiden Fachpersonen eher darunter, dass sie ihre Patient*innen nicht nach ihren Vorstellungen behandeln können, oder ist es eher ein Mangel an Autonomie und Anerkennung, der sie belastet?

Settimio Monteverde: Auch wenn diese Frage für die Forschung von Bedeutung ist, sind die genannten Aspekte im klinischen Alltag oft eng miteinander verknüpft: Im therapeutischen Setting treten ethische Belastungen oft in komplexen Situationen auf. Dabei können sowohl Situationen komplex sein, in denen die ethisch korrekte Vorgehensweise unklar ist, als auch solche, in denen die Rahmenbedingungen (z. B. Zeitdruck, hierarchisches Denken, Kultur der Organisation) eine Klärung erschweren. 

Damit für die Patient*innen bestmögliche Outcomes erzielt werden können, ist eine exzellente Kommunikation entscheidend, insbesondere bei ethischen Fragen wie: Welche Therapieziele sind medizinisch sinnvoll? Wie gut werden die Präferenzen der betroffenen Person in die Behandlungsplanung integriert? Bestehen Risiken einer Über- oder Unterversorgung? 

Welche konkreten Interventionen sind erforderlich, um Fachpersonen in ethischen Fragestellungen zu unterstützen?  

Settimio Monteverde: In diesen Fragen nach den «eigenen» Vorstellungen handeln zu können, ist immer Teil einer beruflich gewachsenen Expertise. Die Forschung zeigt, dass eine fehlende Anerkennung dieser Expertise ethisch belastend sein kann. Im klinischen Alltag ist es jedoch wichtig zu unterscheiden: Handelt es sich um rationale Differenzen, über die keine Einigkeit bestehen muss oder um Situationen, in denen eindeutige moralische Regeln, wie das Verbot der Diskriminierung, Willkür oder Missachtung der Selbstbestimmung, verletzt wurden? Diese Unterscheidung wurde in Erhebungen zum moralischen Stress oft verwischt, was vermutlich zu einer überhöhten Einschätzung dieses Phänomens geführt hat. Legitime Meinungsverschiedenheiten werden im klinischen Alltag gerade dann als ethisch belastend erlebt, wenn eine Kultur des Dialogs fehlt, die die Lern- und Kritikfähigkeit des Teams sowie das Aushalten von Ambivalenz stärkt. Bei der Verletzung moralischer Regeln dagegen ist Mut gefragt, um die erkannten Probleme anzugehen. Strukturierte ethische Fallbesprechungen, Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen, die Verfügbarkeit von Fachpersonen für klinische Ethik sowie spezifische Fortbildungen zu ethischen Fragen haben sich als bewährte Instrumente für den effektiven Umgang mit ethischen Belastungen etabliert. 
 

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