Verhaltensänderungen im Gesundheitsbereich: Eine ökonomische Perspektive

16.05.2024 Lebensstil-Interventionen sind ein vielversprechender Ansatz, um die körperliche und psychische Gesundheit von Menschen langfristig zu erhalten oder zu verbessern und damit zu tieferen Gesundheitskosten beizutragen. Besonders digitale Interventionen versprechen hohe Wirksamkeit bei geringen Kosten. Doch können wir unser Verhalten tatsächlich mit freiwilligen Massnahmen nachhaltig verändern? Und wie soll das finanziert werden? Drei ökonomische Thesen zum Einsatz von Lebensstil-Interventionen.

These 1: Lebensstil-Interventionen brauchen mehr Evidenz.

In Zeiten des Fachkräftemangels und ausufernder Gesundheitskosten könnten besonders digitale Lebensstil-Interventionen mit Apps, Smartwatches und Wearables Abhilfe schaffen. Sie ermöglichen eine individuelle Rund-um-die-Uhr-Betreuung und sind in der Entwicklung verhältnismässig günstig. Wearables und Smartwatches sind bereits heute bei einem grossen Teil der Bevölkerung im Einsatz. Apps können einfach und kostengünstig skaliert werden und sind für die breite Bevölkerung zugänglich, unabhängig vom Standort oder Einkommen der Menschen.

Jedoch sind die Belege für die Effektivität von digitalen Lebensstil-Interventionen noch begrenzt. Verschiedene Studien zeigen positive Auswirkungen von digitalen Massnahmen auf Gesundheitsergebnisse (Gentili et al. 2022). Der Verdacht liegt aber nahe, dass diese Anwendungen mehrheitlich von bereits aktiven, gesunden Menschen genutzt werden und nicht von jenen, die sie besonders nötig hätten. Besonders für die langfristigen Effekte braucht es noch mehr Daten, um die Evidenz zu sichern

These 2: Frewilligkeit ist gut, Anreize sind besser.

Freiwilligkeit ist ein wichtiger Ausgangspunkt für Verhaltensänderungen: Hinter guten Vorsätzen steckt die intrinsische Motivation des Individuums. Gepaart mit Informationen und kleinen «Stupsern» (nudges) kann diese Verhaltensänderungen initiieren. Allerdings zeigen zahlreiche Untersuchungen, dass die intrinsische Motivation oftmals nicht ausreicht. Sehr schnell fällt man wieder in die lästig gewordenen Angewohnheiten zurück.

Abhilfe können hier im Sinne einer extrinsischen Motivation finanzielle Anreize schaffen. Dabei gibt es zwei Spielvarianten: Zuckerbrot («Belohnungen») und Peitsche («Bestrafung»). Als Belohnung für «gutes» Verhalten können beispielsweise Krankenkassen einen Beitrag ans Fitness-Abo leisten. Allerdings zeigt die Forschung, dass Menschen in der Regel stärker auf Bestrafungen als auf Belohnungen reagieren. Daher haben sich negative Anreize wie die Verteuerung des Zigarettenpreises durch die Tabaksteuer global durchgesetzt. Diese Massnahme beeinflusst das Konsumverhalten nachhaltiger als Informationskampagnen oder Abschreckung.

Der Mensch hat Mühe Entscheidungen zu treffen, deren Folgen weit in der Zukunft liegen. Um diese «Kurzsichtigkeit» zu überwinden, sollten (digitale) Lebensstil-Intervention an ein Anreizsystem gekoppelt werden, das die kurzfristige Kosten-Nutzen-Abwägung beeinflusst. Krankenkassen praktizieren das teilweise bereits mit Apps, die beispielsweise bei genügender Bewegung zu einer Reduktion der Versicherungsprämie führen. Anreize müssen aber nicht nur finanzieller Art sein, Verhaltensänderungen können auch durch Gamification oder soziale Anreize erwirkt werden.

These 3: Wir brauchen mehr Prävention.

Als der Krankenversicherer Helsana 2017 eine Gesundheits-App einführte, die einen gesunden Lebensstil mit Prämienverbilligungen belohnte, waren die Reaktionen besonders in der Politik negativ. Bonuszahlungen würden den «Solidaritätsgedanken der Grundversicherung» untergraben.  Dabei ist das Schweizer Gesundheitssystem wenig solidarisch. In der Schweiz sind die privaten, direkt bezahlen Gesundheitskosten (out of pocket spending) im OECD-Vergleich am höchsten (OECD Data 2024).

Finanzielle Anreizsysteme sind also politisch schwer durchzusetzen – besonders in der Schweiz. So gibt es hierzulande weder eine Zuckersteuer, um Süssgetränke zu verteuern, noch eine Besteuerung der Getränkehersteller mit dem Ziel, den Zuckergehalt von Getränken zu senken. Das ist der Fall, obschon verschiedene Studien zeigen, dass solche Besteuerungsarten Übergewicht, das Diabetes-Risiko oder Herzkrankheiten reduzieren und Millionen an Gesundheitskosten einsparen würden (Emmert-Fees 2023).

Die Effektivität privater Massnahmen wird in der Schweiz oft unterschätzt. Das erklärt, warum hier nur etwa 2,2 Prozent der Gesundheitskosten in die Prävention investiert werden. Im nahen Ausland ist dieser Anteil um ein Mehrfaches höher. Stattdessen wird hierzulande Eigenverantwortung grossgeschrieben. Dabei ist aber erwiesen, dass sich Menschen in Bezug auf ihre Gesundheit weder verantwortlich noch rational verhalten. Satt auf die Eigenverantwortlichkeit zu pochen, sollten Entscheide für Lebensstiländerungen einfacher gemacht werden – mit finanziellen Anreizen, Information oder auch mit effektiven Lebensstil-Interventionen wie einer App. Mit solchen verhältnismässig kostengünstigen Präventionsmassnahmen könnte im Gesundheitswesen potenziell sehr viel Geld eingespart werden. Dazu braucht es aber den politischen Willen.

Lebensstil-Interventionen im Fokus

Die Förderung eines gesunden Lebensstils gewinnt zunehmend an Bedeutung bei der Prävention von Krankheiten und bei der Rehabilitation nach Krankheitsfällen. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu unserem Forschungsfeld Lebensstil-Interventionen. Auch das Symposium Fokus Gesundheit widmet sich diesem Schwerpunktthema mit ausgewiesenen Fachexpertinnen und Fachexperten.

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