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Physiotherapeutische Lebensstil-Interventionen zur Gewichtsreduktion: Chancen und Herausforderungen in der Schweiz
11.04.2024 Übergewicht und Adipositas sind in der Schweiz auf dem Vormarsch und belasten die Gesundheit der Bevölkerung. Physiotherapeutische Lebensstil-Interventionen stellen eine vielversprechende Möglichkeit dar, dieser Krankheit zu begegnen. Trotz dieses Potenzials stehen Schweizer Physiotherapeut*innen vor Herausforderungen bei der Umsetzung, wie eine aktuelle Umfrage der BFH zeigt.
Übergewicht und Adipositas haben sich in vielen Ländern zur Volkskrankheit entwickelt. In der Schweiz sind rund 43 Prozent der Bevölkerung übergewichtig, 12 Prozent davon sind adipös (Bundesamt für Statistik BFS, 2023). Zahlreiche Studien zeigen: Übergewicht und Adipositas hängen eng mit Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und muskuloskelettalen Beschwerden zusammen (u. a. Peiris et al., 2021). Aktuelle Richtlinien, wie diejenige zur Behandlung von Kniearthrose, legen zudem nahe, dass Lebensstil-Interventionen mit regelmässiger körperlicher Aktivität und Gewichtsabnahme vielversprechende Ergebnisse in Bezug auf Schmerzlinderung, eine verbesserte Funktion und eine gesteigerte Lebensqualität erzielen können (Bouma et al., 2022; Messier et al., 2013).
Bereits heute nehmen viele Patient*innen, die an muskuloskelettalen Beschwerden leiden und als Nebendiagnose Übergewicht oder Bluthochdruck haben, eine physiotherapeutische Behandlung in Anspruch. Diese könnte mit Lebensstil-Interventionen im Rahmen des physiotherapeutischen Behandlungsplans ergänzt werden. Diese Massnahme könnte sich wiederum positiv auf verschiedene Gesundheitsparameter wie Blutdruck, Schmerz, Funktion und Lebensqualität auswirken. Physiotherapeut*innen lernen in ihrer Ausbildung eine ganzheitliche biopsychosoziale Beurteilung und Behandlung von chronischen Schmerzen. Damit sind sie prädestiniert, Patient*innen mit Übergewicht und Adipositas auf dem Weg zu einem gesünderen Lebensstil zu unterstützen (Tatta et al., 2022; World Physiotherapy, 2019). Eine solche Praxis gibt es in der Schweiz allerdings noch nicht. Vor diesem Hintergrund lancierte die Berner Fachhochschule eine Online-Umfrage für Physiotherapeut*innen, um deren Meinungen, Wissensstand und Barrieren zu dieser Thematik zu erforschen.
Zwei Drittel bieten Massnahmen zur Gewichtsreduktion an
Bis zum 1. Februar 2024 haben 296 Physiotherapeut*innen aus der deutschsprachigen Schweiz an der Umfrage teilgenommen. Eine grosse Mehrheit (94 %) von ihnen stimmte zu, dass es wichtig sei, übergewichtige oder adipöse Patient*innen über die gesundheitlichen Risiken von Übergicht oder Adipositas aufzuklären. Beinahe alle Befragten erachteten die Beratung zu den Themen Ernährung (97 %), körperlicher Aktivität (99 %) und weiteren Lebensstilbereichen wie Schlaf, Stressbewältigung und Rauchen (99 %) als wichtige Komponente bezüglich der Gewichtsreduktion von Personen, die unter chronischen Schmerzen und Übergewicht oder Adipositas leiden. Insgesamt waren 78 Prozent bzw. 80 Prozent der Befragten der Meinung, dass die Beratung zu verschiedenen Lebensstilkomponenten und Massnahmen zur Gewichtsreduktion in den Zuständigkeitsbereich von Physiotherapeut*innen fallen. Knapp zwei Drittel der Befragten bieten Patient*innen mit Übergewicht oder Adipositas und chronischen Schmerzen im Rahmen der physiotherapeutischen Betreuung Behandlungsmassnahmen zur Gewichtsreduktion an. Ein Drittel der Befragten bietet keine solchen Massnahmen an, möglicherweise aufgrund fehlenden Wissens oder Unsicherheiten in der Umsetzung. Weitere Barrieren sind die begrenzte Zeit der Behandlungen und finanzielle Beschränkungen. Ausserdem erleben Physiotherapeut*innen, dass Patient*innen die vereinbarten Therapieziele nicht einhalten und es nur begrenzte Möglichkeiten zur administrativen Nachbearbeitung gibt.
In der physiotherapeutischen Ausbildung wurde das Thema Lebensstil zwar bei 63 Prozent der Befragten behandelt, doch wurde der Kursinhalt grösstenteils als mittelmässig oder neutral bewertet. Es ist wichtig zu beachten, dass aufgrund der Vielfalt der Ausbildungen (von der höherer Fachschule bis zum PhD) und der grossen Altersspanne (22 bis 65 Jahre) unterschiedliche Meinungen existieren und sich manche Personen möglicherweise nicht an alle behandelten Themen erinnern. Zudem ist es möglich, dass sich die Ausbildungsinhalte im Laufe der Zeit verändert haben, da das Vorkommen von Übergewicht und Adipositas in der Schweizer Bevölkerung in den letzten dreissig Jahren zugenommen hat (1992: 30 % vs. 2022: 43 %; gemäss Bundesamt für Statistik BFS, 2023). Die Umfrage ergab, dass ein Fünftel der befragten Physiotherapeut*innen bereits eine Weiterbildung zum Thema Lebensstil-Interventionen, Gewichtsreduktion oder Ernährung absolviert hat.
Weitere Studien nötig
Abschliessend bleibt unklar, welche Empfehlungen, Konzepte oder Behandlungsrichtlinien verwendet werden und welche Aus- oder Weiterbildung Physiotherapeut*innen in der Schweiz benötigen, um eine evidenzbasierte Gewichtsreduktion oder Lebensstil-Interventionen bei Patient*innen umzusetzen. Ebenso bleibt offen, wie die wahrgenommenen Barrieren zur Implementierung solcher Interventionen in Zukunft angegangen werden können. Es braucht qualitativ hochwertige Studien, welche die (Kosten-)Wirksamkeit von Lebensstil-Interventionen, die Physiotherapeut*innen in Bezug auf Schmerz, Funktion und Lebensqualität vornehmen, untersuchen und die Anforderungen an die Therapeut*innen evaluieren. In einem weiteren Schritt braucht es eine detaillierte Analyse der aktuellen Inhalte der Bachelor- und Master-Studiengänge, sowie der bestehenden Weiterbildungsangebote zu diesem Thema, um evidenzbasierte Behandlungsmassnahmen und notwendige Kompetenzen zu erarbeiten und diese in das Curriculum des Physiotherapiestudiums zu implementieren.
Im Artikel werden Zwischenergebnisse einer laufenden Umfrage präsentiert.
Referenzen
- Bouma, S. E., van Beek, J. F. E., Diercks, R. L., van der Woude, L. H. V., Stevens, M., & van den Akker-Scheek, I. (2022). Barriers and facilitators perceived by healthcare professionals for implementing lifestyle interventions in patients with osteoarthritis: a scoping review. BMJ Open, 12(2), e056831.
- Bundesamt für Statistik BFS. (2023). Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022, Neuchâtel 2023.
- Messier, S. P., Mihalko, S. L., Legault, C., Miller, G. D., Nicklas, B. J., DeVita, P., Beavers, D. P., Hunter, D. J., Lyles, M. F., Eckstein, F., Williamson, J. D., Carr, J. J., Guermazi, A., & Loeser, R. F. (2013). Effects of intensive diet and exercise on knee joint loads, inflammation, and clinical outcomes among overweight and obese adults with knee osteoarthritis: the IDEA randomized clinical trial. JAMA, 310(12), 1263-1273.
- Peiris, W. L., Cicuttini, F. M., Hussain, S. M., Estee, M. M., Romero, L., Ranger, T. A., Fairley, J. L., McLean, E. C., & Urquhart, D. M. (2021). Is adiposity associated with back and lower limb pain? A systematic review. PLoS One, 16(9), e0256720.
- Tatta, J., Nijs, J., Elma, O., Malfliet, A., & Magnusson, D. (2022). The Critical Role of Nutrition Care to Improve Pain Management: A Global Call to Action for Physical Therapist Practice. Phys Ther, 102(4).
- World Physiotherapy 2019. (2019). Description of physical therapy. Policy statement.
Lebensstil-Interventionen im Fokus
Die Förderung eines gesunden Lebensstils gewinnt zunehmend an Bedeutung bei der Prävention von Krankheiten und bei der Rehabilitation nach Krankheitsfällen. Deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle eine Reihe von Beiträgen zu unserem Forschungsfeld Lebensstil-Interventionen. Auch das Symposium Fokus Gesundheit widmet sich diesem Schwerpunktthema mit ausgewiesenen Fachexpertinnen und Fachexperten.