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Inspiration aus der Weltraumforschung: Neue Ansätze in der Skolioseforschung
11.12.2024 Die European Space Agency – ESA unterstützt ein Forschungsprojekt, das die Entstehung von Skoliose zu erklären versucht. Prof. Dr. Stefan Schmid erklärt im Interview, warum er sich durch die Methoden der Weltraumforschung neue Erkenntnisse über die Entstehung und Behandlung von Skoliose verspricht.
Das Wichtigste in Kürze
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Das Forschungsprojekt untersucht, ob eine gestörte Gleichgewichtsfunktion (Vestibularorgan) zur Entstehung von Skoliose beiträgt.
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Mit der ESA-Zentrifuge werden Muskelaktivitätsmuster unter reduzierter Schwerkraft analysiert.
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Das von der Weltraumforschung inspirierte Forschungsprojekt könnte innovative Behandlungsmöglichkeiten für Skoliose eröffnen.
Die idiopathische Adoleszenten-Skoliose (IAS) ist eine seitliche Verkrümmung der Wirbelsäule, deren Ursache bislang unbekannt ist. Sie tritt meist während des Wachstumsalters auf und kann zu Fehlstellungen im Körper und dadurch zu Schmerzen führen. In schweren Fällen ist eine chirurgische Versteifung der Wirbelsäule erforderlich, die mit verschiedenen Komplikationen verbunden sein kann.
Stefan Schmid, was hat Sie dazu inspiriert, die Skolioseforschung mit Methoden aus der Weltraumforschung zu verbinden?
Stefan Schmid: Die Projektidee entstand aus einem langjährigen Austausch mit meinem Kollegen, dem Weltraumforscher Dr. Jaap Swanenburg. Im November 2022 hatte ich die Möglichkeit, im Rahmen eines seiner Forschungsprojekte an einer Reihe von Parabelflügen teilzunehmen. Diese Flüge ermöglichen es, kurzzeitig Schwerelosigkeit zu simulieren, indem das Flugzeug spezielle Flugbahnen fliegt. Die Inspiration, Methoden aus der Weltraumforschung in die Skolioseforschung zu integrieren, kam vor allem durch das Verständnis der Rolle veränderter gravitativer Belastungen, die in der Weltraumforschung zentral sind.
Gemeinsam mit dem Team der Astronauten-Zentrifuge der European Space Agency in Köln und Prof. Dr. Romana Ritzmann – eine Expertin für neuromuskuläre Kontrolle in der Schwerelosigkeit – arbeiteten wir einen konkreten Projektvorschlag aus, um diese Ansätze für die Skolioseforschung zu nutzen.
Worum geht es in dem Projekt genau?
Wir untersuchen, ob es Zusammenhänge gibt zwischen der Funktion des Vestibularorgans – vereinfacht gesagt dem Gleichgewichtssystem – und der Aktivität der Rückenmuskulatur bei Jugendlichen mit IAS.
Unsere zentrale Fragestellung lautet: Könnte eine Fehlfunktion des Vestibularorgans zu einer veränderten Muskelaktivität und damit zur Entstehung oder Verschlechterung der Skoliose führen? Um diese Hypothese erstmals am Menschen zu untersuchen, beobachten wir die Aktivität der Rückenmuskulatur unter verschiedenen axialen Belastungen, also Belastungen, die entlang der Körperachse wirken. Das können wir nur in der Astronauten-Zentrifuge der ESA tun.
Wie laufen die Untersuchungen in der Astronauten-Zentrifuge ab?
In der Zentrifuge werden die Teilnehmenden in liegender Position unterschiedlichen axialen Belastungszuständen ausgesetzt. Durch die Steuerung der Rotations-Geschwindigkeit simulieren wir eine schrittweise Reduktion der axialen Schwerkraft auf den Rücken – von der Erdbeschleunigung bis hin zur Schwerelosigkeit. Mit Elektromyographie messen wir die Aktivität der Rückenmuskulatur und beobachten, wie sie sich unter den unterschiedlichen Belastungen verändert. Das hilft uns, allfällige unterliegende Aktivierungsmuster der Rückenmuskulatur zu erkennen, die unter dem Einfluss der Gravitation auf der Erde nicht beobachtbar sind, da sie von stabilisierenden Muskelaktivitäten übersteuert werden.
Welche spezifischen Erkenntnisse erhoffen Sie sich aus der Beobachtung der Rückenmuskulatur in der Zentrifuge?
Wir erwarten, dass sich das Aktivitätsmuster der Rückenmuskulatur bei Jugendlichen mit IAS unter reduzierter axialer Belastung verändert. Insbesondere interessiert uns, ob sich die asymmetrische Muskelaktivität, die im aufrechten Stand überwiegend auf der konvexen Seite, also der nach aussen gewölbten Wirbelsäulenkrümmung, auftritt, unter diesen Bedingungen umkehrt. Dies könnte darauf hinweisen, dass eine gestörte Gleichgewichtsfunktion verursachend für die Skoliose ist.
Wenn wir nachweisen können, dass eine beeinträchtigte Gleichgewichtsfunktion zur Entwicklung einer Skoliose beiträgt, eröffnet dies neue Behandlungsmöglichkeiten.
Inwiefern könnten die Ergebnisse die Behandlung von Skoliose-Patient*innen verändern?
Wenn wir nachweisen können, dass eine beeinträchtigte Gleichgewichtsfunktion zur Entwicklung einer Skoliose beiträgt, eröffnet dies neue Behandlungsmöglichkeiten. Zum Beispiel könnten Rehabilitationstechniken, die explizit die Gleichgewichtsfunktion ansprechen, in bestehende Skoliose-Behandlungen integriert werden. Darüber hinaus könnte die Zentrifuge nicht nur als diagnostisches, sondern auch als therapeutisches Instrument eingesetzt werden, um das Gleichgewichtssystem gezielt zu trainieren und die Muskelaktivität zu normalisieren.
Wer ist am Projekt beteiligt?
Das Projekt wird mit Unterstützung von Dr. Jaap Swanenburg von der Universität Zürich und Prof. Dr. Ramona Ritzmann von der Universität Freiburg realisiert. Zudem arbeiten Forscher*innen, Ärzt*innen, Physiotherapeut*innen und andere Expert*innen aus dem Universitätsspital Bern, dem Universitäts-Kinderspital beider Basel, dem Universitätsspital Zürich und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt mit.
Wie sieht der Zeitplan aus, wann kann es losgehen und wann sind erste Ergebnisse zu erwarten?
Der Start des Projekts ist für den Sommer 2025 geplant. Erste Ergebnisse erwarten wir innerhalb von 12 Monaten nach Projektbeginn.