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Traumasensible Begleitung lernen: Ein ganzheitlicher Ansatz für Gesundheitsfachpersonen

26.09.2024 Der Ansatz der traumasensiblen Versorgung unterstützt Fachpersonen dabei, traumatisierte Menschen achtsam zu begleiten und sich selbst vor sekundärer Traumatisierung zu schützen. Durch spezifische Schulungen und evidenzbasierte Methoden werden Organisationen befähigt, ein sicheres Umfeld für Klient*innen und Mitarbeitende zu schaffen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Begleitung traumatisierter Menschen ist eine anspruchsvolle Arbeit, der mit Selbstfürsorge und Resilienz begegnet werden kann.
  • Ein dreiphasiger Ansatz ermöglicht es, Techniken der Traumabegleitung zu erlernen und sich auf einer tiefen, persönlichen Ebene auf diese Arbeit vorzubereiten.
  • Der Fachkurs «Caring – traumazentriert» legt den Fokus auf diesen ganzheitlichen Ansatz.

In helfenden Berufen begegnen Fachkräfte oft Menschen mit traumatischen Erfahrungen. Besonders in der psychiatrischen Versorgung ist die Häufigkeit traumatischer Vorerfahrungen auffallend hoch (Hogg et al., 2022). Während stationärer Aufenthalte kann es zu neuen traumatisierenden oder retraumatisierenden Erlebnissen kommen. Auch die Helfer*innen sind einem erhöhten Risiko sekundärer Traumatisierungen ausgesetzt (Rixe 2016).

Symbolbild für traumasensible Begleitung

Grundlagen des Traumas und der Ansatz der Trauma-Informed Care

Der Begriff «Trauma» stammt aus dem Griechischen und bedeutet «Wunde» oder «Verletzung». Allgemein kann Trauma als eine Form von toxischem Stress definiert werden, der durch schädliche Ereignisse, Handlungen, Erfahrungen oder Prozesse entsteht (Isobel et al., 2021). Im engeren Sinne bezeichnet Trauma auch die kurz- oder langfristige Belastung durch extrem bedrohliche oder schreckliche Erlebnisse (DIMDI, 2024). Die Reaktionen des Gehirns und des Körpers auf toxischen Stress und traumatische Erlebnisse sind dabei ähnlich – beide Belastungen erfordern eine sensible und fachgerechte Betreuung.

Um traumatisierte Menschen gezielt unterstützen zu können, hat sich der Ansatz der «traumasensiblen Versorgung» oder «Trauma-Informed Care» (TIC) etabliert (SAMHSA, 2014). Dieser fordert Organisationen auf, ihre Behandlungsansätze und Führungskultur so auszurichten, dass sowohl Mitarbeitende als auch Klient*innen geschützt und unterstützt werden. Die Prinzipien einer traumasensiblen Arbeitsweise umfassen:

  1. Fachwissen und Sensibilisierung: Mitarbeitende verstehen die psychischen und physischen Auswirkungen von Traumata und wissen, wie diese ihre Arbeit und ihre Interaktionen beeinflussen.
  2. Schutz vor Retraumatisierung: Durch gezielte Anpassungen der Arbeitsprozesse wird ein sicherer und vertrauensvoller Umgang gewährleistet.
  3. Flexible und empathische Reaktion: Die Mitarbeitenden reagieren sensibel auf die spezifischen Erfahrungen der Betroffenen und passen ihre Handlungen entsprechend an.

Die Einführung des TIC-Ansatzes erfordert eine umfassende Umstrukturierung und gezielte Schulung der Mitarbeitenden, die das Wohl von Fachkräften und Klient*innen gleichermassen fördert.

Die Ausbildung zur traumasensiblen Begleitung bietet Fachkräften die einmalige Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu erweitern und sich selbst weiterzuentwickeln.

  • Manuela Grieser Leiterin Weiterbildung Pflege

Evidenzbasierte Ansätze zur Unterstützung traumatisierter Menschen

Die Begleitung traumatisierter Menschen umfasst verschiedene therapeutische Ansätze, die oft komplementär wirken: den Top-down- und den Bottom-up-Prozess (van der Kolk, 2021):

Top-down-Prozess

Dieser Ansatz stärkt das kognitive Verständnis des Traumas durch Gespräche und soziale Wiederanbindung, z. B. durch Psychoedukation und Reconnection. Ziel ist die Stabilisierung und Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen.

Bottom-up-Prozess

Hier liegt der Fokus auf somatischen und emotionalen Empfindungen. Hilfreiche Verfahren wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) helfen, physiologische Blockaden zu lösen und das Trauma auch auf der Körperebene zu verarbeiten und zu integrieren. Der 8-Phasen-EMDR-Prozess nach Schwartz und Maiberger (2020), der einen besonderen Fokus auf Embodiment legt, umfasst spezifische Schritte zur effektiven Verarbeitung traumatischer Erlebnisse durch eine Kombination von EMDR-Techniken und körperzentrierter Selbstwahrnehmung:

  1. Anamnese der Ressourcen und Belastungen: Eine umfassende Erhebung der Lebensgeschichte der Person, einschliesslich vorhandener Ressourcen und Belastungen, bildet die Grundlage, um zentrale Problembereiche und vorhandene Stärken zu identifizieren.
  2. Vorbereitung und Ressourcenentwicklung: Die Klient*innen werden auf den EMDR-Prozess vorbereitet, wobei stabilisierende Techniken und Ressourcenentwicklung im Vordergrund stehen. Ziel ist es, die emotionale Stabilität zu fördern und die Fähigkeiten zur Selbstregulation zu stärken.
  3. Assessment der Belastung: Die spezifische Belastung wird durch gezielte Fragen und Skalen eingeschätzt, um eine klare Zielsetzung für die Desensibilisierung zu ermöglichen.
  4. Desensibilisierung der Belastung durch EMDR-Sequenzen: In dieser Phase erfolgt die schrittweise Desensibilisierung des belastenden Erlebnisses. Durch EMDR-Augenbewegungssequenzen werden die traumatischen Erinnerungen bearbeitet und emotional abgebaut.
  5. Installation positiver Ressourcen: Hier wird ein positiver Anker installiert, indem die Klient*innen aufgefordert werden, sich auf das «Schönste» oder «Beste» zu konzentrieren. Mit EMDR-Techniken wird diese Ressource intensiviert und stabilisiert, um eine nachhaltige positive Verankerung zu schaffen.
  6. Körpertest und Bodyscan: Ein Bodyscan hilft, verbliebene Restbelastungen im Körper zu identifizieren. Dadurch können die Klient*innen mögliche Spannungen oder blockierte Bereiche lokalisieren und weiter bearbeiten.
  7. Abschluss und Erdung: Die Sitzung wird mit Techniken zur Erdung abgeschlossen, die die Gegenwärtigkeit der Klient*innen im erwachsenen und gestärkten Selbst fördern und helfen, die emotionale Stabilität im Alltag zu bewahren.
  8. (Re-)Evaluation des Prozesses: Zum Abschluss wird der Prozess gemeinsam evaluiert, um die Wirksamkeit der EMDR-Sitzungen zu überprüfen und sicherzustellen, dass der gewünschte Fortschritt erreicht wurde.

Durch die Kombination von EMDR und Embodiment-Techniken schaffen diese acht Phasen einen ganzheitlichen, körper- und ressourcenorientierten Ansatz, der sowohl kognitive als auch körperliche Aspekte der Traumaverarbeitung einbezieht.

Eine Balance zwischen Stabilität, Verarbeitung und Transformation

Judith Herman, eine Pionierin in der Traumatherapie, entwickelte ein dreiphasiges Modell zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen, das trotz seines Ursprungs im Jahr 1992 bis heute aktuell und richtungsweisend ist. Hermans Modell beinhaltet eine strukturierte Herangehensweise an die Traumaheilung, die sich auch durch physiologische Ansätze wie EMDR oder EFT (Emotional Freedom Techniques) (Aalberse & Gessner-van Kersbergen, 2012) erweitern lässt. Die drei Phasen im Überblick:

  1. Sicherheit und Stabilisierung: In dieser Anfangsphase steht die Schaffung eines sicheren und stabilen Umfelds im Vordergrund. Zentrale Elemente sind der Aufbau von Vertrauen, die Förderung von Kommunikation und Kooperation sowie eine erste Psychoedukation über Traumafolgen. Es wird ein grundlegendes Stressmanagement wird, das den Betroffenen hilft, innere Stabilität zu finden und ihre Ressourcen zu aktivieren.
  2. Erinnern und Trauern: Die zweite Phase zielt auf die Exploration und Bearbeitung traumatischer Erinnerungen ab. Diese Erinnerungen werden in einem sicheren Rahmen zugänglich gemacht, durchlebt und integriert. Der Prozess beinhaltet auch die Verarbeitung der körperlichen Aspekte des Traumas, die oft tief im Körper verankert sind. In dieser Phase stehen das Erinnern und das Trauern um die Verluste und Erlebnisse im Mittelpunkt, um die traumatischen Erinnerungen in das Selbstkonzept zu integrieren.
  3. Reintegration und Wiederaufbau: Die abschliessende Phase fokussiert auf die Reintegration in die Gesellschaft und die Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Bei Traumata durch Gewalt oder Missbrauch kann dies auch den Einsatz gesellschaftlicher Ressourcen, wie etwa Gerichtsverfahren, umfassen. Hierbei werden Coping-Strategien gefördert, um das integrierte Trauma als Teil des eigenen Lebens anzunehmen und das «neue Ich» zu entwickeln, das durch das Trauma gestärkt und transformiert ist.

Hermans Modell beschreibt einen umfassenden Rahmen für die Traumabearbeitung, der eine Balance zwischen Stabilität, Verarbeitung und Transformation herstellt.

Die Kombination von Wissen, Selbsterfahrung und Praxisnähe in einem multiprofessionellen Dozierendenteam sorgt dafür, dass die Teilnehmenden ihre eigene Resilienz stärken und lernen, mitfühlend und kompetent für traumatisierte Menschen da zu sein.

  • Manuela Grieser Leiterin Weiterbildung Pflege

Traumasensitiv begleiten lernen: Der dreiphasige Bildungsprozess

Die Ausbildung traumasensibler Begleitender basiert auf einem strukturierten, dreiphasigen Bildungsprozess, der auf Bewusstwerden, Loslassen und Integration zielt. Dieser Bildungsansatz wird in Co-Dozierendenteams geleitet, die jeweils aus einer*m Genesungsbegleiter*in, einer*m Traumakörpertherapeut*in und einer Pflegefachperson bestehen. Diese multiprofessionelle Zusammenarbeit bietet eine umfassende und praxisnahe Lernerfahrung.

Phase 1: Bewusstwerden und Anerkennung

In dieser Phase reflektieren die Lernenden ihre eigenen Denkmuster und Überzeugungen und lernen, wie sie ein sicheres und stabiles Umfeld für sich und die Betroffenen schaffen können. Ziel ist die Verknüpfung von Selbsterkenntnis und Empathie, die für traumasensitives Arbeiten essenziell ist.

  • Sicherheit schaffen: Die Teilnehmenden reflektieren, wie Vertrauen und Stabilität gefördert werden können.
  • Körperliche Sicherheit: Ein Verständnis für die Stabilisierung des Körpersystems und somatische Empfindungen wird aufgebaut.
  • Ressourcenarbeit: Die Begleitenden erarbeiten persönliche Stabilitätsressourcen und übertragen diese in die Arbeit mit Klient*innen.

Phase 2: Loslassen und Neuorientierung

In dieser Phase lernen die Begleitenden, emotionale Blockaden zu lösen und hinderliche Muster loszulassen, um tiefer mit ihrer eigenen Weisheit und Resilienz in Verbindung zu treten.

  • Emotionen Ausdruck verleihen: Ein wertfreies Anwesend-Sein für das Leid anderer fördert die emotionale Resilienz und stärkt die Fähigkeit, als «Zeuge» für die Geschichten der Klient*innen zu dienen.
  • Somatische Verbindung: Körperliche Reaktionen werden bewusst wahrgenommen und bearbeitet, was die somatische Ebene der Trauerarbeit eröffnet.
  • Desensibilisierung und Resilienz: Der EMDR-Ansatz unterstützt die doppelte Desensibilisierung, sowohl für die Begleitenden als auch für die Klient*innen.

Phase 3: Integration und Anwendung im Alltag

In der abschliessenden Phase wird das Erlernte in die berufliche Praxis integriert. Die Begleitenden entwickeln eine neue berufliche Identität, die sie in ihrer Arbeit achtsam und empathisch begleitet.

  • Reintegration: Die Fähigkeit, das Trauma zu verarbeiten und in eine positive Lebensgeschichte zu integrieren, wird bei Klient *innen und Begleitenden gestärkt.
  • Coping-Strategien: Diese werden für Betroffene und Begleitende entwickelt, um langfristig mit Stress und belastenden Situationen umgehen zu können.
  • Evaluation und Stabilisierung: Die Teilnehmenden lernen, ihre berufliche Praxis zu evaluieren und die neuen Kompetenzen nachhaltig einzubringen.

Dieser integrative Ansatz berücksichtigt, dass die Begleitenden und die Betroffenen in einem Wechselspiel miteinander verbunden sind. Die transformative Bildung unterstützt beide Seiten in einem gegenseitigen Wachstumsprozess und stärkt die Fähigkeit der Begleitenden, auf tiefere und achtsamere Weise zu begleiten und zu heilen.

Schlussfolgerung

Die Ausbildung zur traumasensiblen Begleitung bietet Fachkräften die einmalige Möglichkeit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu erweitern und sich selbst weiterzuentwickeln. Der dreiphasige Ansatz ermöglicht es, nicht nur Techniken der Traumabegleitung zu erlernen, sondern sich auch auf einer tiefen, persönlichen Ebene auf diese anspruchsvolle Arbeit vorzubereiten. Die Kombination von Wissen, Selbsterfahrung und Praxisnähe in einem multiprofessionellen Dozierendenteam sorgt dafür, dass die Teilnehmenden ihre eigene Resilienz stärken und lernen, mitfühlend und kompetent für traumatisierte Menschen da zu sein. Wenn Sie daran interessiert sind, ein tiefes Verständnis für traumasensible Begleitung zu erlangen und Ihre professionelle Rolle zu transformieren, ist das Bildungsangebot «Caring – traumazentriert» genau das Richtige für Sie. Dieser Prozess spiegelt den Kern der transformativen Bildung wider: das Potenzial für radikale Veränderung und die Entfaltung einer neuen, resilienten Identität.

Literatur

  • Aalberse, M. & Gessner-van Kersbergen, S. (Hrsg.) (2012). Die Lösung liegt in deiner Hand! Von der Energetischen Psychologie zur bifokalen Achtsamkeit – Emotionsregulation und Neurowissenschaften.
  • DIMDI (2024) ICD-10 Version. https://klassifikationen.bfarm.de/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2024/index.htm. Zugriff 31.10.2024
  • Herman, J. L. (2022). Trauma and recovery. The aftermath of violence – from domestic abuse to political terror (4th ed.).
  • Hogg, B., Valiente-Gómez, A., Redolar-Ripoll, D. et al. (2022). High incidence of PTSD diagnosis and trauma-related symptoms in a trauma exposed bipolar I and II sample. In: Front Psychiatry. doi: 10.3389/FPSYT.2022.931374/
  • Isobel S, Wilson A., Gill K. & Howe, D. (2021). What would a trauma-informed mental health service look like?' Perspectives of people who access services. In: Int J Mental Health Nurs, 30(2), 495–505. doi: 10.1111/inm.12813
  • Rixe, J. (2016). Sekundäre Traumatisierungen von psychiatrisch Pflegenden in Deutschland: Ergebnisse einer deskriptiven Studie. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Unveröffentlichte Masterarbeit.
  • Schwartz, A. & Maiberger, B. (2020). EMDR-Therapie und Somatische Psychologie. Interventionen zur Verstärkung der Verkörperung bei der Traumabehandlung (Kierdorf, T. & Höhr, H., Übers.). 
  • U.S. Department of Health and Human Services (2014). SAMHSA's Concept of T s Concept of Trauma and Guidance for a Trauma and Guidance for a TraumaInformed Approach. https://scholarworks.boisestate.edu/covid/7/. Zugriff 1.11.2024
  • van der Kolk, B. A. (2021). Verkörperter Schrecken. Traumaspuren im Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann (Kierdorf, T. & Höhr, H., Übers.) (7. Aufl.).

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