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Entlasten Advanced Physiotherapy Practitioner das Schweizer Gesundheitssystem?
20.10.2022 Während die Rolle der Advanced Physiotherapy Practitioner (APP) in anderen Ländern etabliert ist, fehlt es in der Schweiz an Studien, die Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit im Schweizer Gesundheitssystem belegen.
Frühlingszeit: Gartenzeit im Emmental. Frau Gerber hat sich schon lange darauf gefreut. Nach zwei Tagen Bodenbearbeitung ist es Zeit, die Setzlinge zu pflanzen. Als sie sich bückt, um eine Kiste Zwiebeln aufzuheben, schiesst ihr ein heftiger Schmerz in den Rücken. Langsam
und mit viel Mühe findet sie den Weg zu einem Stuhl und ruft ihren Physiotherapeuten an, bei dem sie vor drei Jahren wegen Rückenschmerzen in Behandlung war. Seither besucht sie wöchentlich ein Fitnesscenter. Der Physiotherapeut muss sie am Telefon enttäuschen: Sie müsse zuerst die Hausärztin konsultieren, bevor er sie behandeln dürfe. Als Frau Gerber nach 15 Minuten in der Warteschleife mit der Praxisassistenz spricht, erhält sie für den nächsten Tag einen Termin bei ihrer Hausärztin. Diese verordnet ambulante Physiotherapie.
Das Beispiel beschreibt, wie eine Kundin in der Schweiz zu ihrem behandelnden Physiotherapeuten gelangt. Ein Direktkontakt ist nicht möglich, der Weg muss über eine ärztliche Fachperson führen. Wäre die Rolle des Advanced Physiotherapy Practitioners in der Schweiz bereits etablierter, könnte das anders laufen, denn: Direktzugang für die Physiotherapie und Triage-Funktion sind laut eines Berichts für arbeits- und sozialpolitische Studien im Ausland die häufigsten Aufgaben eines Advanced Physiotherapy Practitioners (APP) (Künzi et al., 2014). Physioswiss beschreibt die Rolle indes wie folgt: «Swiss Advanced Physiotherapy Practitioners sind klinisch tätige Physiotherapeut*innen, welche sich durch entsprechende Aus- und/oder Weiterbildungen sowie reflektiertes Handeln hohe Expertenkompetenzen angeeignet haben und diese in hochkomplexen Patientensituationen gewinnbringend einsetzen.» (Physioswiss, 2018).
Aufgaben eines APP im Ausland und in der Schweiz
Die Advanced-Practitioner-Rollen bei Physiotherapeut*innen sind in anderen Ländern – insbesondere in englischsprachigen – schon länger etabliert. Mangel von medizinischem Fachpersonal und lange Wartezeiten für Patient*innen waren hier Hauptgründe für die Einführung (Morris et al., 2014). Unter anderem in England, Kanada und Australien nehmen Physiotherapeut*innen in APP-Rollen folgende erweiterte Kompetenzen ein:
- Verordnung von bildgebenden Untersuchungen
- Injektionen
- Überweisung an Spezialisten
- Orthopädische Triage
- Verschreibung von Medikamenten
In diesen Ländern wurde der Nutzen der APP bereits mit Studien belegt (Desmeules et al., 2013). Es ist jedoch schwierig, die Erkenntnisse aktueller Studien auf die Schweiz zu übertragen, da die Gesundheitssysteme und Kontextfaktoren unterschiedlich sind.
Autorinnen:
Elsemieke Antonia Stokman
BFH-Absolventin MSc Physiotherapie, Omnia-Physio Burgdorf
Désirée Margrith Muff
BFH-Absolventin MSc Physiotherapie, Physiotherapie St. Anna Klinik
Patrizia Spagnuolo
BFH-Absolventin MSc Physiotherapie, Physiotherapeutin Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital
Verschiedene Schweizer Spitäler und Kliniken setzen bewusst oder unbewusst APP-Rollen ein (Oesch et al., 2019). Im Inselspital Bern werden seit einigen Jahren die Schulter- und Kniesprechstunden mit Physiotherapeut*innen umgesetzt, und ein Projekt mit Physiotherapeut*innen auf dem Notfall wurde getestet. Es ist unklar, welche Aufgaben die APP in der Schweiz genau umfassen und wo die Grenze zwischen dem üblichen Arbeitsgebiet und einer erweiterten Rollenfunktion liegt. In der Literatur wurden diverse klinische, koordinative, ausbildende, leitende und wissenschaftliche Rollenfunktionen beschrieben. Diese erweiterten Rollenfunktionen werden aber oft nicht als solche wahrgenommen, sind nicht lohnrelevant und erleben fehlende Anerkennung (Oesch et al., 2019).
Unterschiedliche Voraussetzungen je nach Land
Die Voraussetzungen für die Übernahme einer APP-Rolle sind in jedem Land verschieden. Ein Doktorat oder ein MSc in Physiotherapie und fünf Jahre klinische muskuloskelettale Physiotherapie sind in Grossbritannien und Australien Voraussetzung. In der Schweiz gibt es keine genauen Richtlinien zu den Anforderungen und Kompetenzen der APP. Bis anhin gibt es nur ein Positionspapier des Physiotherapieverbandes bezüglich APP (Physioswiss, 2018). Die erweiterte Rolle beschreibt die Übernahme einer Aufgabe ausserhalb des Tätigkeitsgebietes (task shift), für die wenn möglich die gesamte Verantwortung übernommen wird (responsibility shift) (Lüthi et al., 2019).
Dr. Martin L. Verra, Direktor des Instituts für Physiotherapie der Insel Gruppe, sprach sich in einem früheren Interview mit diesem Magazin dafür aus, dass es für die APP-Rolle eines MSc in Physiotherapie bedarf, um die wissenschaftlichen Grundlagen und die Fähigkeiten im Projektmanagement zu erlangen. Er hat die «IG Swiss-APP» mitinitiiert und engagiert sich auf verschiedenen Ebenen für die Weiterentwicklung der Physiotherapie. Des Weiteren sollen APP entwickelte Fertigkeiten und Kenntnisse in ihrem spezifischen Fachgebiet haben und mehrjährige Berufserfahrung aufweisen (Lüthi, 2019).
Wie könnte es anders sein?
Zurück zum Fallbeispiel. Was wäre anders gelaufen, wäre ein APP in der Physiotherapie-Praxis tätig gewesen? Statt im überfüllten Wartezimmer der Hausärztin zu warten, hätte Frau Gerber direkt zu einem APP gehen können. Nach einem ausführlichen Screening hätte, falls indiziert, sofort mit Physiotherapie begonnen oder weitere (bildgebende) Untersuchungen verordnet werden können.
Aber: Ist ein APP in der Lage, dies korrekt zu entscheiden? Was, wenn die Schmerzen von Frau Gerber durch einen Tumor verursacht werden und dies nicht bemerkt wird? Oder umgekehrt, wenn die oder der APP durch ein nicht-indiziertes MRI unnötig hohe Gesundheitskosten verursacht?
Das ist die Frage, welche medizinisches Fachpersonal, Krankenkassen, Wissenschaft und Politik beantwortet sehen möchten. Dies nicht nur, um die Sicherheit der Patient*innen zu gewährleisten, sondern auch, um das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten. Die wissenschaftliche Literatur ist nicht eindeutig, sie zeigt jedoch, dass Physiotherapeut*innen die Kompetenzen besitzen, bei muskuloskelettalen Beschwerden korrekte klinische Entscheidungen zu treffen (Langridge et al., 2019; Ojha et al., 2014). Dies gilt für Physiotherapeut*innen mit mehr als fünf Jahren klinischer Erfahrung und nach Abschluss spezieller Ausbildungen (Budtz et al., 2021).
Die vorgeschlagenen Voraussetzungen für einen APP-Titel (MSc-Abschluss, mehrjährige Erfahrung, entwickelte Fertigkeiten) stimmen also mit der Literatur bezüglich Patient*innensicherheit überein. APP-Rollen könnten bei geringeren Kosten einen gleichwertigen oder gar besseren Nutzen erzielen und insbesondere den drohenden Mangel der Hausarztpraxen in Zukunft etwas entschärfen. Gerade dieser ist insbesondere in ländlichen Regionen wie dem Emmental, wo Frau Gerber wohnt, immer grösseres Thema. Um die Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit von APP-Rollen in der Schweiz zu belegen, sind qualitative und quantitative Studien bei bestehenden APP-Rollen wichtig. So kann auf nationaler Ebene der Grundstein für APP-Rollen gelegt werden.
Fokus Gesundheit zum Thema Advanced Practice
Erweiterte Rollen in der Gesundheitsversorgung: Was braucht's und was bringt's?
Am Symposium Fokus Gesundheit sprechen wir mit Menschen aus der Praxis, Gesundheitspolitiker*innen wie auch Behördemitgliedern über die Advanced-Practice-Rollen: Was bringen sie und was braucht es für ihre Implementierung?
01.12.2022, 17.30–19.30 Uhr – National Bern (Theatersaal), Hirschengraben 24, 3011 Bern
Mehr Infos und Anmeldung hier.
Gesundheitsmagazin «frequenz»
Dieser Beitrag ist Teil der September-Ausgabe 2022 unseres Magazins «frequenz».